Mittwoch, 14. März 2018

14. März 1918


Das „Schwäbische Kriegstagbuch“ berichtet aus Dünaburg:
„Das Gesamtbild der Stadt mutet entschieden russisch an. In erster Linie und im Gegensatz zu Lodz, Wilna, Grodno u. a. – keine polnische, keine deutsche Aufschrift. Die hohe Pelzmütze und der lehmfarbene Soldatenmantel herrschten vor. Die Russen sind gut gekleidet, gehen einzeln oder in Trupps, gleichgültig, ohne Eile. Die meisten ohne Kokarde, alle ohne Achselklappe und Waffe. Winken uns zu, begrüßen uns als Kameraden, fahren in jenen kastenartigen Schlitten (an denen dicke Quasten baumeln und deren reich messingbeschlagenes Geschirr mehr zur lebhaften Gangart, als zu der elenden Verfassung des Rößleins paßt) und lachen …. „Für uns ist der Krieg aus!“ …. Man hat es gemerkt gestern – sie hatten sich längst aus ihren Stellungen fortgemacht und uns nicht in Unkosten und Munitionsvergeudung gestürzt …
Die übrige männliche Bevölkerung trägt auch Uniform. Wenigstens wirken die Reit-stiefel, Stiefelhosen, die Schirmmütze und der Rock mit Quetschfalten und Außenta-schen so ähnlich. Letzterer sieht übrigens – gut gearbeitet – praktisch und kleidsam aus. Die von den Bolschewiki ihrer Gradabzeichen beraubten Offiziere erscheinen täglich mehr wieder mit Achselstücken und Kokarde. Sie fügen sich gelassen in das Unver-meidliche. Auszeichnungen habe ich noch auf keiner russischen Soldatenbrust entdek-ken können.
Ich sagte, die Stadt erscheine typisch russisch. Daran ist wohl auch der bedeutend weniger starke jüdische Einschlag schuld, als er z. B. links der Düna allenthalben zu Tage tritt. Dort sieht man als Vertreter des Bürgerstandes nur Juden, hier gibt es elegante Frauen und Männer slawischen Typs. Auch die Letten und Litauer haben sich hier an der Sprachgrenze schon so mit den Slawen vermischt, daß mein Auge sie nicht mehr trennen kann. Gesprochen wird in erster Linie lettisch und russisch, dann deutsch und polnisch, schließlich noch jüdisch. Die Stadt soll im Frieden 80 000 Einwohner gehabt haben. Viele sind jetzt aus Angst vor kommenden Unruhen geflüchtet. Trotz der ziem-lichen Entfernungen gibt es auch in „Twinsk“ keine Straßenbahn. Der Bürger fährt mit der Schlittendroschke, der Bauer mit seinem eigenen Schlitten, auf dem er zusammen-gekauert mit einer Handvoll Streu unter den Knien hockt. Die zähen kleinen Pferde traben unermüdlich und werden ohne Trense gefahren. Über dem Kummet wölbt sich ein Bogen aus Holz und mit Messing verziert, der den Gefährten einen malerischen Reiz verleiht. Pferdekadaver in jedem Stadium der Verwesung, von den Hunden zerfleischt und mit geöffnetem Bauche, liegen in allen Stadtteilen (in der Nähe von Kasernen zu Dutzenden!) umher. Eine Unzahl vagabundierender Hunde bevölkern Straßen und Höfe. In Bündeln überqueren Feldkabelleitungen Bäume, Zäune, Dächer. Ihr unbeschreib-liches Wirrsal würde allein schon die Zustände trefflich zu illustrieren vermögen, die auf den Schreibstuben und Kommandostellen, die sie ehedem verbanden, geherrscht haben. Das Auge sucht vergeblich in den schnurgeraden Straßen eine Fensterreihe ohne zer-brochene Scheiben „Die Bolschewiki“ – sagt man uns. Ich will ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen: die deutschen Flieger und ihre Bomben sind auch nicht ganz schuld-los daran. Aber wie jene bestgehaßte Partei von Männern, die Selbstbestimmungsrecht und Gerechtigkeit auf ihre Fahne geschrieben zu haben vorgeben, das Staats- und Privateigentum zerstört – davon habe ich wenige Schritte von meinem Quartier beredte Zeugen. Die Kaserne mir gegenüber ist zur Unterbringung von Menschen nach unseren Begriffen überhaupt nicht mehr brauchbar, Scheiben, Öfen, gewaltsam zertrümmert, von Inneneinrichtung auch nicht die leiseste Spur mehr. Der Fußboden hoch bedeckt mit menschlichem Unrat, Stroh, Gasmasken und Konservenbüchsen. Im Erdgeschoß plät-schert eine Wasserleitung, die sich nicht mehr abstellen läßt. Als Folge davon sind Hof und benachbarte Räume einen halben Meter dick mit Eis bedeckt. In den Ställen und Schuppen dasselbe Bild. Das Offizierskasino zeigt die Segnungen der Revolution besonders deutlich; es wurde zum Pferdestall umgewandelt, durch die Fensterlöcher sieht man im Innern Berge von gefrorenem Dung und von den Pferden zur Hälfte auf-gefressenes Holzwerk.“


aus: „Schwäbisches Kriegstagbuch“, Stuttgart 1918

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