Montag, 30. Oktober 2017

30. Oktober 1917


„30. Oktober! Ponte della Delizia, Gorriciza! Welchem Alt-Württemberger aus dem Jahr 1917 schlägt das Herz nicht höher bei diesen Namen; wem klingen sie nicht als stolze Kriegserinnerungen, bildet doch der Tag den Glanzpunkt in der italienischen Offensive, unvergessen in der Geschichte des Regiments!
Während der Nacht war höheren Ortes bekannt geworden, daß die Masse der italieni-schen Armee mit ihrem gesamten Troß auf die westlich von Codroipo befindlichen großen Brücken über den Tagliamento in wilder Flucht seien. Nun galt es den letzten Streich zu führen, und dem Feind den Weg über das Wasser abzuschneiden.
Frühmorgens bekam zunächst das II. Bataillon den Befehl, nach Süden gegen die Ponte della Delizia abzubiegen und sich in den Besitz der Brücken zu setzen, anschließend sollte das I. Bataillon Gradisca – Gorriciza nehmen und an das II. Bataillon Anschluß suchen, während das III. Bataillon mit dem Regimentsstab nach Pozzo rückte. Das II. Bataillon trat mit der 6. Kompagnie alsbald als Vorhut an; bei dem Gehöft Madonna de Loretto kam sie auf Sturmentfernung in lebhaftes Feuer. Zu ihrer Entlastung wurde die 5. Kompagnie unter ihrem, keine Gefahr scheuenden Führer Leutnant Bracher über die deckungslose Ebene rasch nach rechts heraus bis an den hohen Uferdamm des Flusses gezogen. Links vom II. Bataillon sollten die 11. Jäger vorstoßen. Die 7. Kompagnie deckte weiter rückwärts die rechte Flanke, während die 8. Kompagnie hinter der 6. als Reserve verblieb. Nach einer letzten Feuersteigerung aus allen vorgezogenen M.-G. stürmte der tapfere Leutnant d. R. Hengstberger mit einer Handvoll Leute den vom Feind besetzten Graben. Alle übrigen Teile der 6. Kompagnie, unter denen sich der Ersatzreservist Dennenmoser, der Landsturmpflichtige Rupp und die Musketiere Heller und Bentele ganz besonders hervortaten, drangen in das Gehöft ein und nahm es mit blanker Waffe in Besitz. 300 Italiener, 4 M.-G. waren die Beute. Vom Dache des Hauses aus konnte der Bataillonsführer, Hauptmann Schempp, und der vom Regiment entsandte Verbindungsoffizier, Oberleutnant Dobel, erkennen, daß man der Schlüsselpunkt zur Besitznahme der feindlichen Stellung in Händen hielt. Stark besetzte Schützengräben mit Drahthindernissen lagen in mehreren Linien vor dem Ziel, dem noch 600 Meter entfernten Brückeneingang; feindliches M.-G.-Feuer schlug aus den Gräben herüber. Mit genugtuender Freude wurde auch das Vorgehen der 5. Kompagnie, die unter starkem Flankenfeuer von rechts rückwärts zu leiden hatte, am Flusse gesehen und gemeldet. Mit größter Schnelligkeit brachte der Bataillonsführer seine M.-G.-K. des Leutnants d. R. Lamparter mit einem Zug des Vizefeldwebels Kettemann durch die Dachluken in Stellung und ließ die endlosen Kolonnen unter Feuer nehmen und zum Halten bringen. Verwirrung, Ineinanderfahren, Halten war die Folge. Dieser Erfolg erfrischte in hohem Maße die Kämpfenden, zumal gleichzeitig in Richtung Gradisca der Gefechtslärm des I. Bataillons hörbar wurde. In prächtiger Weise war auch die 5. Kompagnie wieder vorwärts gekommen; die Unteroffiziere Reustlen, Zimmermann, Jentsch (schwer verwundet), Kawälde, der Gefreite Schlotterbeck und die Musketiere Kreye, Hees, Geymann (schwer verwundet) und Traib waren dabei ganz besonders vorbildlich. Unter Wirkung der überhöhend schießenden M.-G. stürzte sich die 6. Kompagnie auf den Feind. Nur dem furchtlosen Vorwärtsdrängen jedes Einzelnen ist es zu danken, daß die in etwa zwanzigfacher Übermacht in den Gräben stehenden Italiener zum größten Teil gefangen wurden. Gegen 1000 Gefangene, viele M.-G. blieben in der Hand des Bataillons. Aus einem Barackenlager in der linken Flanke drohte der Kompagnie erneute Gefahr.
In diesem kritischen Augenblick erschien die 8. Kompagnie und setzte zum Angriff an, der der Kompagnie dort ebenfalls 1000 Gefangene brachte. Vereint ging der Sturm der drei Kompagnien gemeinsam weiter; die 7. Kompagnie war nahezu zum Gefangenen-transport aufgebraucht. Fluchtartig strömte der Italiener der Brücke zu; sein Zurück-gehen sollte ihm durch Feuer vom jenseitigen Ufer erleichtert werden, dem jedoch die 5. Kompagnie ihre leichten M.-G. auf einer Kiesbank entgegensetzte.
Die große Holzbrücke war im Besitz des Bataillons, Noch strömten hunderte Feinde der Brücke zu. Das schneidige Vorgehen des Vizefeldwebels Saud der 6. Kompagnie vereitelte auch dies und schnitt ihnen den Weg ab.
Als die vordersten Teile des Bataillons über die Brücke stürmen wollten, schlug ihnen schlagartig konzentrisches Feuer vom jenseitigen Ufer entgegen, hinter dem Wirrwarr der Wagen mußten die Stürmenden Schutz suchen, das Ufer war nicht zu erreichen, die letzte Strecke war gesprengt oder abgebrannt. Gleichzeitig hatten sich die Jäger in den Besitz der Eisenbahnbrücke gesetzt.
Um dieselbe Morgenstunde trat das I. Bataillon mit der 1. Kompagnie auf Gradisca an, nahm daselbst eine feindliche Feldwache gefangen und ging zum Angriff auf Pozzo vor, von wo aus von in den Häusern eingenisteten feindlichen Schützen heftiges Infanterie- und M.-G.-Feuer kam. In ¾ stündigem Häuserkampf, in dem jedes Haus einzeln genommen werden mußte, wurde die feindliche Gegenwehr gebrochen. Tödlich ver-wundet fiel hier der schon in der Flandernschlacht so hervorragend tapfere Offizier-stellvertreter Bernhard. 600 Gefangene, 10 M.-G., 25 Maultiere waren die Beute. Auf das stark besetzte Gorriciza geht der Angriff weiter. Durch Umgehung im Buschgelände und rasches Zugreifen gelingt es dem Zug Schnitzer, ein Geschütz zu nehmen. Doch ein 300 Meter breiter Wiesenstreifen vor dem Nordrand des Dorfes läßt den Angriff stocken. Da naht Hilfe. Im Galopp kommt ein Zug der 12. M.-G.-K. mit italienischer Bespannung vor und greift ein, ebenso etwas später die 3./119.
Nachdem noch die in Pozzo auf Befehl des Regiments aufgefahrene österreichische Gebirgsbatterie das Feuer eröffnet hatte, setzte der Bataillonsführer, Major Völter, gegen Mittag die 4. Kompagnie von S. Nocco aus westlich umfassend, hinter ihr die 3. Kompagnie, je mit zugeteilten schweren M.-G. zum Angriff an. In schweren Einzel-kämpfen geht der Sturm bis an den Westrand von Codroipo vorwärts, wo mit dem fechtenden Gren.-Reg. 119 Verbindung genommen wurde. Auch hier, wie beim II. Bataillon, bot sich den erstaunten Blicken ein unvergeßliches Schauspiel dar. Auf der Chaussee standen und fuhren, noch zum teil in dreifacher dichtgedrängter Reihe hunderte von Fahrzeugen, Geschützen, Kraftwagen; dazwischen wimmelten Haufen von Italienern. Im Straßengraben, von den Fahrzeugen, aus den Dächern schossen feindliche Schützen; das mörderische Feuer der M.-G. dämpfte jedoch bald jeden Widerstand. Massen von Italienern aller Truppenteile warfen die Waffen weg und stürzten, vermischt mit zahlreichen Zivilpersonen, mit hocherhobenen Händen und wehenden Tüchern auf die Truppe. Nur schwer konnte man sich durch das Knäuel ratternder Autos, wild um sich schlagender, getroffener Pferde usw. durchwinden. Ein geschlossenes italienisches Bataillon, der Kommandeur zu Pferde an der Spitze, wollte noch der Brücke zueilen. Zu spät; einige M.-G.-Garben genügten, es zu zersprengen.
Am Bahndamm ließ der Bataillonsführer die Verbände in Ordnung bringen und dirigi-erte das Bataillon seinem Auftrag gemäß gegen die Ponte della Delizia, wo es sich mit Einbruch der Dunkelheit als Reserve bereitstellte. Neben ungezählter Beute machte das Bataillon 4000 Gefangene.
Im ganzen betrug die Beute des Regiments an diesem Tage etwa: 85 Geschütze, 250 Kraftwagen, 1200 Fahrzeuge, 1000 Pferde, 2 Flugzeuge, 30 Protzen, 30 Feldküchen, 30 M.-G., 5 Lastzüge, eine Kriegskasse mit 43 000 Lire. An Gefangenen wurde ein General, 267 Offiziere, etwa 11 475 Mann eingebracht.
Während die erschöpften Bataillone zurückgezogen auf ihren Lorbeeren ausruhten, übernahm das III. Bataillon die Besetzung des Ufers und der Brücke. Ein um Mitternacht versuchter neuer Sturm, in der Hoffnung, noch auf einigen vorhandenen Balken das jenseitige Ufer zu gewinnen, konnte nicht gelingen, da tatsächlich die letzte Brückenstrecke zerstört war und dauernd unter feindlichem Feuer lag.“



aus: „Das Infanterie-Regiment „Alt Württemberg“ (3. Württ.) Nr. 121 im Weltkrieg 1914–1918“ׅ, Stuttgart 1921

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