Dienstag, 23. Oktober 2018

23. Oktober 1918



„Die Nacht vom 22. bis 23. Oktober war klar und mondhell. Man sah fast bis an die Häuser von Bazuel hinüber. Um 1 Uhr vormittags meldete Leutnant Sattler, der mit 30 Mann der Sturmabteilung der Division einen Teil des Vorfeldes besetzt hielt, daß sich englische Tanks vor der Front bereitstellen. Die feindliche Infanterie benehme sich auf-fallend laut.
Ein neuer Angriff stand also bevor.
Die Besatzung des Vorfeldes eröffnete das Feuer. Einmal hier, einmal dort auftauchend, schoß sie in die englische Bereitstellung hinein. Auch die Minenwerfer des Regiments, die Leutnant d. R. Schmalzried leitete, schickten ihre Minen zum Feind hinüber. Die eigene Artillerie schoß kräftiges Vernichtungsfeuer. Um 2.30 Uhr vormittags begann der Engländer mit Trommelfeuer – so stark und ausgiebig wie noch nie in den Vortagen. Ein Hagel von Geschossen prasselte auf Ors und die deutschen Batterien nieder. Die Hauptwiderstandslinie des Regiments hatte der Gegner anscheinend nicht entdeckt. Sie bekam daher weniger Feuer, als das Gelände dicht dahinter, wo die Engländer wohl die Stellung vermuteten. Unter die Granaten aller Kaliber, die unaufhörlich einschlugen, mischten sich einzelne Lagen von Phosphor- und Nebelgranaten. Die Fernsprechlei-tungen wurden durchgeschossen. Die Fernsprecher des Nachrichtenzuges versuchten die Drähte zu flicken – es war eine aussichtslose Arbeit. Die Meldehunde verweigerten in dem wilden Feuerkessel den Dienst.
Es war 3 Uhr vormittags geworden. Das Feuer raste weiter.
Um 3.20 Uhr vormittags rasselten die englischen Tanks heran. Die leichten und schwe-ren Maschinengewehre gingen ihnen, soweit sie in dem dichten künstlichen Nebel erkennbar wurden, mit S. m. K.-Patronen zu Leibe. Der englischen Infanterie, die hinter den Tanks folgte, schlug ungeschwächtes Feuer entgegen. Sie warf sich in Deckung oder flutete zurück. Nach seitheriger englischer Gewohnheit setzte nunmehr verstärktes Artilleriefeuer auf die jetzt erkannte vordere Linie des Regiments ein. Diese wich nach vorne aus, nistete sich unkenntlich im Gelände ein und begann sofort mit ihren Maschi-nengewehren zu feuern, sobald sich ein Ziel vor ihr zeigte.
Links vom Regiment, beim Infanterie-Regiment 478, erscholl zeitweise kräftiges Infan-teriefeuer, ein Zeichen,. daß das brave Schwesterregiment noch im Besitz seiner Stel-lung war. Rechts vom Füsilier-Regiment, über dem Bahndamm drüben, wo vor dem englischen Angriff die Reste des Infanterie-Regiments 479 unter Hauptmann Schaal gelegen hatten, war es dagegen still geworden. Patrouillen des I. Bataillons, die Verbin-dung aufnehmen wollten, stießen auf Engländer. Bald darauf meldete sich Hauptmann Schaal beim Regimentskommandeur in Ors. Er berichtete, daß das englische Artillerie-feuer mit verheerender Wucht seine Stellung getroffen habe, so daß es seinen Mann-schaften nicht mehr möglich war, sich gegen die feindliche Übermacht zu halten. Eng-lische Infanterie befinde sich bereits hinter seinem Gefechtsstand.
Ähnlich hieß es, solle es beim linken Flügelregiment der 17. Reserve-Division sein, das rechts von der Abteilung Schaal gelegen hatte. Auch hier sei die erkannte vordere Linie schwer beschossen und zurückgedrängt worden.
Eine Alarmnachricht jagte nunmehr die andere. Ein Pionier erzählte, die Engländer seien in einen am Bahnhof Ors gelegenen Stollen eingedrungen. Er selbst sei mit knap-per Not durch den zweiten Ausgang entkommen. Andere meldeten, auf dem Bahnhof Ors stünden bereits feindliche Tanks. Um nicht von Norden her umfaßt zu werden, setzte Oberst von Alberti das letzte, was er hatte, die Fernsprecher und die Ordonnanzen des Regimentsstabes, an den Eingängen von Ors ein. Hauptmann Schaal erhielt mit 6 Mann den Befehl, die Brücke, die die Rue du Oui über den Sambre-Kanal führte, zu besetzen. Sie lag nach einer Meldung des Hauptmann Schaal bereits unter englischem Maschinengwehrfeuer.
Nun war alles verausgabt, bis auf den Stationstrupp des Regimentsstabes, der die – nicht funktionierende – Leitung zur Brigade aufrecht erhalten sollte. Wo das II./122 stand, war um diese Zeit nicht bekannt.
Das englische Feuer dauerte mit unverminderter Heftigkeit an. Es war wie eine Erlö-sung, als um 5.45 Uhr vormittags ein Meldegänger des Hauptmanns Aichholz die Meldung überbrachte, daß die Front des Füsilier-Regiments noch an der alten Stelle halte. Um auch rechts vom Regiment Klarheit zu schaffen, machten sich zwei Offiziere des Stabes, Leutnant d. R. Stierle und Leutnant d. R. Köpf, auf den Weg zum rechten Regimentsstab. Sie kehrten lange nicht zurück. Oberst von Alberti war in schwerer Sorge, ob sie nicht dem feindlichen Feuer zum Opfer gefallen seien. Endlich, nach bangem Warten, kehrten sie erhitzt, aber mit zufriedenen Gesichtern zurück. Sie hatten zwar den Stab des rechten Nebenregiments nicht gefunden, aber von einem Batail-lonsführer erfahren, eine Kompanie des Infanterie-Regiments 162 stünde noch am Bahnhof Ors.
Seit Beginn des englischen Trommelfeuers war die Verbindung mit der Brigade unter-brochen. Oberst von Alberti entschloß sich daher, als ältester Offizier die Führung der einzelnen kämpfenden, teilweise weit auseinanderliegenden Bataillone in die Hand zu nehmen. Das I. und III./122 hatte seine Stellung weiter zu halten. I. und II./478, II./122 und die Kompanie des Infanterie-Regiments 162 am Bahnhof Ors bekamen ihre Ab-schnitte zur Verteidigung zugewiesen. Ob dieser Befehl zu allen Stellen durchgedrungen ist, ist nicht bekannt geworden. Das II./122 bekam ihn und hielt dementsprechend den Bahnhof Ors besetzt.
Es war inzwischen 8 Uhr vormittags geworden. Das feindliche Trommelfeuer begann nachzulassen. Um 8.15 Uhr vormittags war es in Störungsfeuer übergegangen.
Von Major Baumann, dem Führer des Infanterie-Regiments 478, erfuhr Oberst von Alberti, daß die Brigade auf Grund der Lage nördlich und südlich von Ors den Befehl gegeben habe, hinter den Sambre-Kanal zurückzugehen. Um 2 Uhr nachmittags begann Hauptmann Aichholz, seine Truppen (I. und III.), die in der Flanke schwer bedroht waren, langsam abbauen zu lassen. Fechtend zogen sie sich auf das noch am Bahnhof Ors bereitliegende II. Bataillon, von hier über den Kanal zurück und besetzten den Kanaldamm. Nachdem sich Oberst von Alberti an Ort und Stelle überzeugt hatte, daß die Besetzung durchgeführt war, gab er kurz vor 3 Uhr nachmittags auch dem II. Ba-taillon am Bahnhof Ors den Befehl, zurückzugehen. Die Masse der englischen Infan-terie folgte dem Bataillon nicht. Leutnant d. R. Schoder führte seine Kompanien am hellen Tage, angesichts der zaghaft vorfühlenden englischen Patrouillen, über die Brük-ke bei Rue du Oui hinter den Kanal zurück. Als der letzte Mann die Brücke über-schritten hatte, sprengte sie ein voreiliger Pionier vorzeitig in die Luft.
Das II. Bataillon besetzte den ihm zugewiesenen Teil der Kanalböschung links neben dem I. Bataillon. Das schwache III. Bataillon wurde herausgezogen und als Reserve hinter den rechten Flügel gelegt. Die II. Abteilung des Feldartillerie-Regiments 238, die seit März 1917 in guten und in bösen Tagen treu zum Regiment gehalten hat – ihr Führer Hauptmann Mauthe stand nach einem scherzhaften Ausspruch des Obersten von Alberti â la suite des Füsilier-Regiments 122 – baute ihre Geschütze hinter dem Regi-ment auf. Als vollends die Maschinengewehre und Minenwerfer ihre Aufstellung einge-nommen hatten, stand das Regiment wieder kampfbereit dem Feind gegenüber.“


aus: „Das Füsilier-Regiment Kaiser Franz Joseph von Österreich, König von Ungarn (4. württ.) Nr. 122 im Weltkrieg 1914–1918“, Stuttgart 1921

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