Dienstag, 20. September 2016

20. September 1916


„Über seine Eindrücke als neu ins Feld gekommener Soldat schreibt der Rekrut August Schmeh (11./246):
„In der Nordostecke des St. Pierre Vaast-Waldes an der Straße Manancourt – Sailly-Saillisel „erholte“ sich das III. Bataillon von den Anstrengungen der letzten Tage bei Bouchavesnes. Der Regen trug nicht dazu bei, den Kampfwert der Truppe zu heben. Man sprach von Ablösung, aber statt Ablösung kam der Befehl zu neuem Einsatz. Das Regiment sollte den Windmühlenberg, Höhe 145, zurückerobern. Um sich etwas zu erwärmen und die Kleider zu trocknen, suchten wir von Zeit zu Zeit die Gouver-nements-Ferme, in der Oberstabsarzt Dr. Gärtner seinen Verbandsplatz aufgeschlagen hatte, auf. Der Weg dorthin lag voll toter Pferde, zerrissener Gespanne und herrenlosem Kriegsmaterial. Jede Nacht forderte neue Opfer von den dort entlang galoppierenden Kolonnen. Kurzum, eine Stätte des Grauens.
Die 11. Kompagnie hatte im südwestlichen Teil des Waldes einen Reservegraben auszuheben. Wald konnte man diesen Teil nicht mehr nennen, es war nur noch ein Fläche mit kahlen abgeschossenen Stämmen, der Boden von Granaten aufgewühlt, ein wirres Durcheinander von Ästen und Zweigen. Jeden Morgen bei Tagesanbruch war die Kompagnie auf dem Weg zum Schanzen. So auch heute. Zuerst eine kurze Zeit auf der Straße nach Rancourt. Am Waldrand in der Mitte der Straße lag ein toter Radfahrer über seinem Fahrrade. Die gefüllte Tasche mit Befehlen hatte er noch umgehängt. Tote Pferdeleiber versperrten den Weg. Am Straßenrande sahen wir vier Opfer einer Granate. Im Abflußgraben der Straße entlang, lagen ebenfalls mehrere Tote. Abgestumpft gingen wir weiter. Aus einem Erdloch rief ein Posten: „Nicht weitergehen, die feindliche Artillerie ist hier eingeschossen.“ Wir erreichten nun unsere Arbeitsstätte und begannen sofort mit Schanzen. Als der Nebel sich verzogen hatte, erschienen feindliche Flieger, bald darauf lag unser Arbeitsplatz unter dem Feuer der englischen und französischen Granaten. Wir waren gezwungen, eiligst den Rückweg anzutreten. der tote Radfahrer lag noch auf dem Wege. Wir legten ihn etwas abseits der Straße, ihn zu beerdigen, war unmöglich.
Da am 20. September der Angriff auf Höhe 145 stattfinden sollte, lösten wir während der Nacht vorne ab. Mit Bangen sahen wir dem Tag entgegen. Die Gefechtsstärke der Kompagnie war infolge Ausfalle durch Tod, Verwundung und Krankheit infolge schlechten Wetters sehr zurückgegangen. Durch das feindliche Artilleriefeuer war alles in großer Nervosität, so daß man vielfach nicht einmal die Nahrung zu sich nehmen konnte. Am Lagerplatz der Kompagnie hatte sich daher ein ganzes Lager von Lebens-mitteln, wie Brot, Butter, Konservenbüchsen angesammelt, alles vom Regen durchnäßt.
Der 20. September 1916 brach an. Kurz vor Tagesanbruch lösten wir unser II. Bataillon ab und lagen nun in einem frisch ausgehobenen Graben, der vom Feinde eingesehen werden konnte. Dieser Graben befand sich in einer Mulde, 50 Meter vom Gegner entfernt. Eine Annäherung von hinten war bei Tage ausgeschlossen. Mann an Mann standen wir im engen Graben, ohne jede Deckung. Das Feuer unserer Artillerie begann mit einstündiger Verspätung um 8 Uhr vormittags. Es war sehr schwach und verstummte bald wieder. Das niederdrückende Gefühl, daß unsere Kameraden von der Artillerie wegen Munitionsmangel nicht mehr für uns tun konnten, lastete auf uns allen. Nach Stunden höchster Aufregung war es 10 Uhr geworden. Die Stunde des Angriffs!
Zum erstenmal befand ich mich in vorderer Linie und dazu gleich an einem solchen Tage. Ich hielt mich daher an einen alten Kämpfer der 11. Kompagnie, den Ersatz-reservisten Grunwald, an dessen Unerschrockenheit ich heute noch oft denken muß. Als erste stiegen wir aus dem Graben, ein Hagel von Geschossen schlug uns entgegen. Ein Vorwärtskommen war unmöglich. Grunwald wurde von drei Schüssen getroffen. Er sank mit dem Ruf: „Zurück, es ist alles umsonst“ in den Graben zurück. Zwei Schwer-verwundete blieben in einem Granatloch dicht an unserem Graben liegen. Alle Versuche, sie zu retten, scheiterten an dem heftigen Maschinengewehrfeuer. Der Versuch, einen kleinen Graben auszuheben uns so an sie heranzukommen, wurde durch die feindliche Artillerie vereitelt. Noch lange war das Stöhnen und Jammern der beiden Verwundeten zu hören, bis endlich der Tod sie von ihren Qualen erlöste. Der Gegner nahm nu unseren Graben planmäßig unter stärkstes Feuer. Größte Sorge bereiteten uns unsere Verwundeten. Wir wußten nicht mehr, wohin wir sie legen sollten, um ihnen etwas Schutz zu gewähren. Mit lautem Johlen und Lärmen begleitete der Gegner sein Feuer. Man sah die Franzosen herumlaufen, ihre Maschinengewehre standen auf dem Grabenrand. Wir befürchteten einen französischen Angriff. Um unsere mißliche Lage nicht zu verraten, schossen wir wenigstens noch Lebenden was das Zeug hielt. Von der linken Nachbarkompagnie kamen dem Feuer ausweichende Leute mit dem Ruf: „Bei uns ist alles hin!“ Unser Graben war durch Artilleriefeuer beinahe eingeebnet. Trotz Warnung unseres Kompagnieführers, Leutnant Pfister, zog sich alles in einem kleinen Grabenstück, in dem ein Maschinengewehr stand, zusammen. Bald hatte der Feind diesen Punkt erkannt. Heftigstes Artilleriefeuer wurde von ihm dahin geleitet. Ein Volltreffer begrub alles dorthin Geflüchtete. Des Gegners höhnisches Lachen hörten wir deutlich. Die Bergung ging nur langsam und unter größter Lebensgefahr vor sich. Alle zu bergen war trotz größter Mühe nicht möglich. Ein Landwehrmann, der vollständig zwischen Balken eingeklemmt war, rief immer wieder: „5000 Mark demjenigen, der mich herausholt.“ Dem Musketier Kircher gelang es endlich, den Verschütteten unter höchster Lebensgefahr zu befreien. Ein erneuter Volltreffer machte dem Jammer der restlichen Verschütteten ein Ende. Pulverdampf lagerte wie dichter Nebel auf unserer Stellung. Verlassen und abgeschnitten warteten wir auf den Abend, nur langsam vergingen die Stunden. Neben uns lagen Schwerverwundete, die Zähne aufeinander gebissen, und ersehnten den Abtransport. Kurz vor Einbruch der Dämmerung setzte nochmals wütendes Artilleriefeuer ein. Unsere Munition war erschöpft, krampfhaft umklammerten wir unsere letzten Handgranaten. Der von uns erwartete französische Angriff kam jedoch nicht. Nach Einbruch der Dunkelheit gingen die marschfähigen Verwundeten zurück. Leutnant Pfister begab sich zum Bataillonsgefechtsstand um sich für die Ablösung der ermatteten Kompagnie einzusetzen. Zu zweit, mit vielen Schwer-verwundeten, beobachteten wir aus unserem kleinen Grabenstück den Feind. Plötzlich drang von links lebhaftes Gewehrfeuer und Geschrei zu uns herüber. „Was ist denn dort los?“ Der Meldegänger Jäger war, vom Bataillonsgefechtsstand kommend, über eine unbesetzte Stelle unserer vorderen Linie hinweg auf die französische Stellung zuge-rannt. Unmittelbar vor derselben erkannte er jedoch seinen Irrtum. Er sprang zurück und direkt auf zwei unserer Posten zu. Diese hielten ihn in der Nacht für einen Franzosen und zogen ihre Handgranaten ab. Jäger gab sich im letzten Augenblick zu erkennen. In ihrer Aufregung behielten die beiden ihre Handgranaten in der Hand. Ein Krach, und das Unglück war geschehen. Die beiden letzten Toten der 11. Kompagnie an der Somme ereilte ihr Heldenschicksal! Wir wurden in der gleichen Nacht noch abgelöst und trugen nach der Ablösung unsere verwundeten Kameraden auf der Straße nach Rancourt zurück. Groß war unser Erstaunen, als wir auf der Straße einen Sanitätswagen antrafen, der uns unsere Verwundeten abnahm. Ein Bravo diesem tüchtigen Fahrer, der es gewagt hatte, bis dicht hinter die vordere Linie zu fahren und seinen Kameraden Hilfe zu bringen.
Zwölf Mann rückten unverwundet aus der vorderen Linie ab, das war der Rest der 11. Kompagnie. Wie wir hinten erfuhren, hatte man uns tagsüber bereits aufgegeben, weil man nicht glauben konnte, daß in unserer gefährdeten Lage noch einer mit dem Leben davonkommen konnte.““

aus: „Das Württembergische Reserve-Inf.-Regiment Nr. 246 im Weltkrieg 1914–1918“, Stuttgart 1931


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