Freitag, 20. November 2015

20. November 1915


Ein Tag aus der Kriegszeit (November 1915). Zum Morgenkaffee gibt es Schwarz-brot. Die Milch wurde entrahmt, da wegen des Buttermangels jedermann selbst Butter bereitet. Um 7 Uhr sind  schon die Morgen-Extrablätter einiger Stuttgarter Zeitungen angeschlagen. Vor jedem steht eine Gruppe Leser. Viele schauen nach, ob die hiesigen Zeitungen keine Extrablätter ausgegeben haben, was stets geschieht, wenn über Nacht wichtige Nachrichten eingegangen sind. Auf der Straße marschiert ein Trupp Franzosen, der zu Grabarbeiten bei der Landeswasserleitung kommandiert ist. Bald darauf folgt ein Bataillon Landsturm, das zu einer Felddienstübung auszieht. „Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod“ erschallt es zum Marsch. Für viele aus ihnen wird das Lied bald bittere Wirklichkeit werden.  In dünnen Reihen wandern Arbeiter zur Fabrik. Dort geht ein Briefträger. Er war wie bereits alle seine Berufsgenossen bis Kriegsbeginn Fabrik-arbeiter und versieht mit andern den Dienst der Einberufenen. Da und dort erwarten ihn Personen unter der Haustüre sehnsüchtig. Was für Nachrichten wird er bringen? So oft schon hat er, wenn er einen Feldbrief übergeben hatte, hinter sich herzzerreißenden Jammer gehört. Vor dem kath. Volksschulgebäude und auch auf dem Graben exerzieren Soldaten. Gegen 10 Uhr erblickt man auf allen Straßen schon Verwundete aus den Lazaretten, darunter Kindergesichter und graue Köpfe. Einfüßige und einarmige Krieger mit zerfetztem Gesicht, mit ausgeschossenem Auge oder andern schweren Verletzungen begegnen uns. Von verschiedenen Gebäuden weht eine weiße Flagge mit rotem Kreuz. Das sind die Lazarette. Von einem Lazarett löst sich unter den wehmütigen Klängen von Beethovens Trauermarsch eben ein Leichenzug ab. Ein gestorbener Verwundeter wird zum Bahnhof geleitet. Im Heimatdorf soll er die Ruhestatt finden. Der gleiche Zug, der ihn mitnimmt, bringt Feldgraue, die von Münsingen zurückkehren und nun unter schneidigen Marschweisen durch die Stadt marschieren. Zum Mittagstisch gibt es ein mageres, fleischloses Gericht, mit Fettsurrogat zubereitet. Was wird das amtliche Extra-blatt, das jeden Abend erscheint, heute bringen? Diese Frage federt in allen Köpfen. Um 5 Uhr wird es angeschlagen. Alles stürmt darauf los. Nichts Wichtiges heute: viel Brühe, wenig Brocken. „O Deutschland hoch in Ehren!“ erschallt es jugendfrisch von der Seitenstraße her. Die Jugendwehr ist’s, die von einer Felddienstübung zurückkehrt. Man geht zum Glase Bier. Die Wirtschaft ist gut besetzt. Die meisten Gäste sind Militärpersonen, darunter solche, die morgen ins Feld kommen, und andere, die vom Felde zurückkamen. Alles spricht nur vom Krieg und vom Essen. Von den Urlaubern und Verwundeten erfährt man vieles, was in keiner Zeitung und in keinem amtlichen Bericht steht.“


aus: „Gmünd im Weltkrieg Chronik“, Schwäbisch Gmünd 1927

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