„Ein Gang durch die Stellung vor Ypern. –
Um die Jahreswende 1915/16.
Von
Generalleutnant a. D. Ernst Reinhardt
Am 13. Dezember
1915 war ich im Regimentsstabsquartier in Waterdamhoek einge-troffen. Am
nächsten Tag übernahm ich den Abschnitt des Regiments. Über Morsleede, an dem
ausgedehnten Friedhof der Sachsenregimenter vorbei über das Straßenkreuz bei
Broodseinde führte der Weg nach Zonnebecke. Um diese Ortschaft war in den
Mai-kämpfen hart gestritten worden, sie trug davon noch sehr deutliche Spuren,
die Häuser lagen in Trümmern. In den unteren Räumen eines Klosters war der
Truppenverbands-platz des Regiments, wohl vielen Regimentskameraden aus jener
Zeit noch gut bekannt. Vor Zonnebecke, feindwärts, lag der
Divisions-Pionierpark. Bis hierher wurde das Pio-niermaterial aller Art
alltäglich mit der Vollbahn befördert. Späterhin wurde, anstatt in Feldküchen,
auch die warme Verpflegung für die in Stellung befindlichen Teile des Regiments
mit der Vollbahn vorgeführt, nachdem der Fahrplan dementsprechend geän-dert worden
war. Ja, vom Januar ab fuhren die Vollbahnzüge allnächtlich noch weiter nach
vorn bis zur Haltestelle Arrêt, kaum 2 km vom Feind entfernt. Es war ein
eigen-artiger Anblick, wenn um Mitternacht die Lokomotive auf der Bahnlinie
Roulers – Ypern, wo in Friedenszeiten Luxusschnellzüge verkehrten, in langsamem
Schnecken-tempo mit Pionierzeug aller Art in schwerbeladenen Güterzügen
angefaucht kam.
Zum
Regimentsgefechtsstand, damals „Haus Hanebeeke“ mit seinem weggeschossenen
Giebelteil, einem früheren Bauernhof mit kleinem Gärtchen und Tümpel, auf dem
unsere Enten schwammen, gelangte man, am Regimentsfriedhof vorbei durch den
Poly-gonwald, dann am Westhaus, Gefechtsstand des Regiments 246, und am
Hanebeek-Wäldchen vorüber, wo eine 24-cm-Batterie eroberter Festungsgeschütze
aus Maubeuge stand. Die Zufahrt zum Hanebeek-Haus war bei dem naßkalten
Winterwetter grundlos; trotzdem wurde sie auch von den Truppenfahrzeugen als
Anfahrt benutzt. Das einzel-stehende Gehöft, dessen Bedeutung als Stabsquartier
dem Feinde nicht verborgen blei-ben konnte, litt viel unter Beschießung, ohne
jedoch öfters ernstlich getroffen zu wer-den. Immerhin mußten die
Fensterscheiben an manchen Tagen mehrmals erneuert wer-den. Infolge dieser
häufigen Störungen wurde der Regimentsgefechtsstand in den letzten
Dezembertagen nach einem neugebauten, festen und gegen Fliegerbeobachtung
tadellos eingedeckten Betonunterstand, dicht an der Bahnlinie, verlegt, Haus
Hanebeeke wurde Bataillonsgefechtsstand.
Von dem neuen
Regimentsgefechtsstande aus, der, in einen Straßendamm eingebaut, nur vom
Eingeweihten erkannt wurde, ging man auf oder entlang der Bahnlinie in die
Stellung vor. Auch die ablösenden Kompagnien benützten die Bahnlinie auf ihrem
Vormarsch zur Stellung. Rechts der Bahn standen Baracken, teils frei im
Gelände, teils einer Hecke entlang, für die Kompagnien des
Bereitschaftsbataillons. Die Unterstände der Kompagnieführer und auch eines
Bataillonskommandeurs lagen an der Bahnlinie. Der Schwabenhof, ein Gehöft
einige Minuten vorwärts vom Regimentsgefechtsstand, beherbergte den
Kompagnieführer der Maschinengewehrkompagnie mit seinem Stabe. Von Arrêt aus,
einem Friedenshaltepunkt, von dem außer einem Wegeübergang nichts mehr übrig
war, gingen Förderbahnen ab, mittelst deren das beigeführte Material nach den
linken Nebenabschnitten gefördert wurde. Von Arrêt aus ging das Vollbahngleis
weiter nach vorn zur Endstation „Jägergraben“. Bis hierher wurde Verpflegung,
Ze-mentsteine, Hindernis- und Baumaterial aller Art auf offenen Bordwagen mit
Handbe-trieb vorgeschoben. Da diese Strecke vom Feind nicht eingesehen war,
konnte sie auch bei Tage befahren werden. Überhaupt schossen die Engländer vor ⅓10
Uhr morgens nicht mit Artillerie. Erst zu dieser Zeit setzte ihr ungeregeltes
Streufeuer mit Schrapnells und Granaten ein, das zwar wenig Wirkung hatte, aber
doch störend auf den Betrieb in der Stellung wirkte.
Bei der Station
„Jägergraben“ überschritt man eine leichte Geländewelle. Von hier aus war man
eingesehen. Deshalb war hier auch ein Schutzwall aufgeschichtet gegen das
besonders bei Nacht hierher gerichtete Strichfeuer feindlicher
Maschinengewehre. Links der Bahn im Jägergraben, rechts der Bahn im
„Abwehrgraben“ lagen die Reservekom-pagnien der vorderen Linie. Der
Bataillonskommandeur hatte seinen Gefechtsstand rechts (nördlich) der
Bahnlinie, während links (südlich) in der Nähe derselben ein neuer
Betonunterstand für den vorgeschobenen Verbandplatz gebaut worden war. Die
Bahn-linie trennte den Regimentsabschnitt in zwei Teile. Der Abschnitt rechts
der Bahn war bedeutend ruhiger als der linke. Ihn durchzog der erst im Laufe
des Monats Januar fertiggestellte sogenannte „Panama-Kanal“, ein großzügig
angelegter, mit viel Geschick und Fleiß von den Infanteriepionieren gebauter
Entwässerungsgraben, teils bis 3 m tief, teils miniert (eine 200 m lange
Stecke!). Eine Glanzleistung von Erdarbeit, die merk-würdigerweise von den
Engländern während unserer Zeit nicht zerstört wurde! Die im Oktober/November
und an Weihnachten noch bedeutende Hochwassergefahr in Stel-lung und Gräben war
dadurch gebannt. Freudigst begrüßt wurde daher vom ganzen Regiment die
Eröffnung des Kanals und ihm planmäßig alles Wasser zugeleitet.
Im Abschnitt
rechts der Bahn führte der
„Schwarzkopf-Weg“ im Zickzack nach der vorderen Stellung, nach der „Schmiede“,
einem früheren Gehöft, von dem so gut wie nichts mehr stand. Hier stieß der
Abschnitt an das Nachbarregiment. sächsisches Res.-Inf.-Regt. 245 von der 107.
Res.-Brigade.
Links der Bahn
herrschte ein lebhafterer Grabenkrieg mit Granaten und Schrapnells, mit Minen,
Maschinen- und Infanteriegewehrfeuer. Der vordere Kampfgraben war, soweit es
der sandige Boden des flandrischen Tieflands zuließ, behelfsmäßig ausgebaut. In
ihm führten wir auch den Minenkrieg unter der Erde. Die feindliche Stellung vom
25. September hatte uns zur Warnung gedient. Jetzt waren wir in der Vorhand.
Der Erfolg blieb nicht aus. Die Sprengung vom 14. Dezember legte davon beredtes
Zeugnis ab.
Der vorderste
Graben im linken Abschnitt wurde erreicht durch den „v. d. Decken-Weg“. Dieser
führte längs der Bahnlinie; er wurde aber in seinem vorderen Teil sehr schmal
und so nieder, daß er als „Annäherungsgraben“ den Anforderungen nicht
ent-sprach, auch konnte er vom Feinde eingesehen werden und war bei starkem
Regen voll Wasser. So mußte also Ersatz geschaffen werden. Etwa 20 – 25 m
hinter dem vorderen Graben verlief der „Riegelgraben“ als Wohngraben, durch
mehrere Verbindungsgräben mit dem Kampfgraben verbunden. In ihm hatten auch die
Kompagnieführer der vorde-ren Linie ihre Unterstände.
Im Kampfgraben
hielten Scharfschützen und Posten an den Schießscharten Wacht, vor allem zum
Schutz der Minenschächte. Im linken Teil des Abschnitts südlich der Bahn
gelangte man durch einen Durchschlupf in der vorderen Grabenwand zum
„Trichter“. Dieser „Trichter“ war die Sehenswürdigkeit des Abschnitts. Ein
Sprengtrichter von ge-waltiger Ausdehnung, etwa 50 m im Durchmesser, angefüllt
mit Wasser, das aus den umliegenden Minierschächten heraufgepumpt wurde und
durch die Gräben ihm zufloß, war er dem Kampfgraben unmittelbar vorgelagert.
Neben unserem Trichter lag der „englische Trichter“, nur durch einen schmalen
Grat von jenem getrennt. Eine gewisse weihevolle Stimmung lag über der
Trichterstellung, die aus Schützennischen und eini-gen mit Handgranaten behangenen
Unterständen bestand. Es durfte kein lautes Wort gesprochen werden, nur auf den
Zehenspitzen durfte man sich den Postenständen nä-hern. Die Besatzung bestand
bei Tag aus Posten, bei Nacht aus mehreren Gruppen. Lebhafte Handgranatenkämpfe
spielten sich, besonders bei Nacht, hier ab. Die Hand-granaten flogen hinüber
und herüber, meist ohne Schaden anzurichten. Der Dienst in der Trichterstellung
war bei unsern Leuten nicht sehr begehrt, er wurde zu den schwierig-sten im
ganzen Abschnitt gerechnet. Aber dieser Dienst am nächsten am Feind entbehrte
für unsere wackeren Leute doch nicht des Reizes und einer gewissen Romantik.
Die Kämpfer der Trichterstellung werden sich seiner jedenfalls mit besonderer
Vorliebe erinnern.
Durch den
„Ypern-Weg“ gelangte man zum Nebenabschnitt des Regiments 246. Der „Ypern-Weg“
bildete die Fortsetzung des vorderen Grabens und flankierte den rechten Flügel
des Nebenabschnitts, dessen vordere Linie gegen der unsrigen etwas abgesetzt
war. Vom „Ypern-Weg“ führte der im Januar fertiggestellte „Leuthold-Weg“ in
Zick-zacklinien nach hinten und bildete den Hauptannäherungsgraben des linken
Abschnitts als Ersatz für den ungenügenden „v. d. Decken-Weg“.
Die Instandhaltung
der Gräben war eine harte, schwere Arbeit bei dem nassen Wetter, dem leichten,
sandigen Boden und dem vielen Wasser, dessen wir nur sehr schwer Herr werden
konnten. „Schwierigkeiten sind dazu da, daß sie überwunden werdenׅ“, war der Wahlspruch
der 248er, und sie wurden überwunden. Der Ausbau der Stellung machte sichtliche
Fortschritte.“
aus:
„Das Württembergische Reserve-Inf.-Regiment Nr. 248 im Weltkrieg 1914–1918“,
Stuttgart 1924