„Der
Morgen des 26. dämmert herauf. Leichter Nebel liegt auf den Feldern, doch dicht
genug, um die Franzosen bis ans Gaishag herankommen zu lassen, ehe sie bemerkt
werden können. Auch den Bahndamm haben sie zwischen Bahnhof Aspach und
Bahnwarthaus Michelbach überschritten und 500 Meter vor unserer Stellung sich
einzugraben begonnen. Als der weichende Nebel ihre Umrisse zeigt, setzen sie
zum Sturm an. Da schlägt ihnen ein mörderisches Feuer aus den Stellungen zu
beiden Seiten der Straße am Ausgang von Niederaspach entgegen, wo die 14.
Kompagnie durch 2 Züge der 9. verstärkt worden war. Die Franzosen erleiden
starke Verluste. 40–50 Tote mit aufgepflanzten Bajonetten liegen noch lange vor
unsern Stellungen. Was dem Feuer nicht zum Opfer fällt, kriecht zum Bahndamm
zurück.
Als der
Nebel gegen 9 Uhr sich verzogen hat, setzt die feindliche Artillerie ein. Vor
allem gilt ihr Feuer den Stellungen um die Kirche und dieser selbst, die am
Ortsrand gegen den Michelbacher Wald zu liegt. Anschaulich schildert
Oberleutnant Feucht (9. L. 119) die Geschehnisse in seinem Tagebuch. Der
Bericht, der unter dem Eindruck der Erlebnisse selbst niedergeschrieben ist,
gibt ein klares Bild der Vorgänge und der seelischen Wirkungen dieser Kämpfe,
die zum Schwersten gehörten, was wir damals erlebt hatten. „Um 12.30. kam
Meldung von den Gräben um die Kirche und die Bitte um Unterstützung gegen die
vorgehenden Franzosen. Major Hofacker schickt mich hinaus, um ein klares Bild
von der Lage zu gewinnen und die Besetzung dort zu regeln. Ich eile mit einer
Gruppe des 2. Zuges und dem Gefreiten Beck zur Kirche und an den linken Flügel
der dortigen Stellung. Hier ist Unteroffizier Horn von der 14. in übler Lage.
Von seinen Leuten sind noch 2 bei ihm, 2 liegen tot da, die andern sind
verwundet. Drüben hinter einer Bodenwelle, etwa 400 Meter vor uns, liegt der
Feind. Einzelne Schüsse kamen herüber und werden erwidert. Ich lasse meine
Gruppe hier und eile mit dem Gefreiten Beck weiter durch den äußerst engen
Graben. Der 1. Zug der 14. ist hier und ein Maschinengewehr. An der Ecke der
Stellung, bei den Hecken, treffe ich Feldwebelleutnant Alber von der 9. Kompagnie
und Süßkind mit Leuten der 15., die hier eingeschoben waren. Die Batterie, die
uns beschießt, steht nach Ansicht der Leute im Kreuzwald nahe beim Bahnhaus
Michelbach. Da sie gerade schweigt, kann ich’s nicht beobachten. Im nördlichen
Grabenteil vor dem Pfarrhaus finde ich meinen alten Zug der 14., mit dem 1. Zug
der 9. vermischt, vor. Die Leute haben eine riesige Freude, mich hier zu sehen.
Von dieser Stelle aus kann ich die toten Franzosen deutlich sehen. Da die
Besetzung hier zu dicht ist, schicke ich den ersten Zug der 9. unter Leutnant
Koch auf den schwach besetzten linken Flügel. Dann zurück aufs Bataillon zur
Meldung! Die Beschießung geht inzwischen weiter, sie wird immer heftiger. Die
Läden müssen geschlossen werden, damit die Scheiben nicht springen. Wieder
kommen Hilferufe aus dem Graben bei der Kirche, die andern Teile der Stellung
haben nicht zu leiden. Also muß ich wieder hinaus. Ich nehme den Rest des 2.
Zuges der 9. Kompagnie mit vor. Die Hälfte der Mannschaft schicke ich durch die
Höfe und Gärten durch die Obergasse, die andern nehme ich mit mir die
Hauptstraße entlang. Im Schutz der Kirchenmauer wollen wir uns treffen. Von
dort sollen die Leute auf den Graben verteilt werden. Verwundete kommen uns vom
linken Flügel entgegen, den ich vor einer Stunde frisch aufgefüllt habe. Wir
kommen ohne Verluste an der Kirche zusammen. Da es augenblicklich ruhig ist,
will ich rasch mit einer Gruppe in den Friedhoflaufgraben. Ich gehe voraus, der
nördlichen Kirchenwand entlang, die mich gegen die Batterie vom Kreuzwald her
deckt. Die Leute folgen in Reihe hinter mir.
Plötzlich
– ist’s ein Schlag oder ein Druck? – ich finde mich wieder, mit dem Rücken an
die Kirchenwand gelehnt, den Nachhall einer mächtigen Erschütterung im Ohr. Um
mich Rauch, Qualm, Staub. Der Platz ist leer. Oder seh‘ ich rasch um die Ecke
noch Gestalten verschwinden? Jetzt sehe ich neben mir am Boden zwei Leute,
gekrümmt, regungslos, leise wimmernd. Daneben umgestürzte, zersplitterte
Grabsteine. Ein paar Schritt davon liegt ein Mann, ebenso regungslos. Ich sehe
das alles ohne klares Empfinden. Teilnahmslos sehe ich die Mauer vor mir
zusammenbrechen. Schlag auf Schlag. Ins Pfarrhaus reißt’s ein gewaltiges Loch,
Kreuze stürzen dicht vor mir, vom Kirchdach fallen Steine und Ziegel. Wieder
ein Schlag in nächster Nähe; Mörtel und Mauerschutt überschüttet mich. Irgend
woher, hoch durch die Luft, wirbelt etwas zu mir her und fällt neben mir zu
Boden. Es ist ein abgerundetes Stück Lederpappe mit dem Namen des Optikers
Früngel-Stuttgart in Goldbuchstaben. Es muß von der Innenseite eines
Fernglastaschendeckels stammen, das irgend ein Kamerad im Graben drüben 40, 50
Schritt von mir trug. Das rüttelt mich auf. Ich sehe, daß ich dicht neben der
Kirchentüre stehe, aus der jetzt ein Unteroffizier mir winkt. Ich nicke ihm zu.
Das Wimmern ist verstummt, die beiden haben ausgelitten. Des einen Gewehr ist
in der Mitte zerbrochen, dem andern fehlt ein Stiefel, ein Fuß. Ich eile zurück
hinter den Kirchturm. Noch einer liegt dort an einem Grabstein, sein eines Bein
ist am Knie ein blutiger Stumpf. Ein paar Verwundete helfen sich fort, so gut
es geht, die Krankenträger eilen zur Hilfeleistung herbei.
Hinter
der Kirche finde ich den Rest der Leute, der Schrecken ist ihnen deutlich
anzusehen. Auf der Südseite der Kirche ist’s im Augenblick ruhig. Also die
Leute durch den Friedhof zum Laufgraben geführt! Auf der Nordseite der Kirche
schlägt wieder Lage um Lage ein. – Unsere Leute liegen im langsamen
Feuergefecht gegen die Linien drüben im Feld. Ich komme gerade recht, um zu
sehen, wie drüben vom Wald Verstärkungen kommen und die feindliche Feuerlinie
verlängern. Unsere Leute schießen schneller, das Maschinengewehr, das in
unserer Nähe im Graben eingebaut ist, tritt in Tätigkeit. Drüben flutet’s zurück
in den Wald, manche bleiben liegen. Ich gehe weiter nach links, um dort
nachzusehen. Eine Granate wirft ein Stück des Grabens ein und deckt einen
Unteroffizier zu, neben dem ich eben noch stand. Drüben versuchen sie es jetzt
auf andere Weise. Einzeln, ein Mann nur jeweils, kommen sie aus dem Wald und
rennen in die Linie vor. Bald vergeht uns das Schießen auf den Waldrand, aus
dem sie drüben vorbrechen. Granate um Granate sucht unsern Graben zu fassen.
Wieder und wieder das scharfe peitschende Zischen, dumpfer Schlag im Boden oder
heller betäubender Knall und hochaufspritzendes Erdreich, schwarzgelber Qualm
und stechender Rauch. Lage auf Lage saust zu uns herein. In der kurzen Pause
nach den 4 Schüssen muß es reichen bald zu einem Blick hinüber zu der
feindlichen Infanterie, bald zu einem Wort an die eigenen Leute. Wir ducken
uns, hilflos, wehrlos dem Verderben preisgegeben. Wenn doch unsere Artillerie
endlich eingreifen würde! Tote und Verwundete gibt’s. Ein Unteroffizier sinkt
neben mir lautlos zusammen, Granatsplitter im Kopf. Dort wird einem der ganze
Kopf weggerissen, einem andern reißt’s den Unterkiefer weg. Alber arbeitet sich
zu mir durch, er ist erschüttert, seine Leute sind ganz verzweifelt, denn der
Graben, der bei ihnen im rechten Winkel abbiegt, wird der ganzen Länge nach vom
Granatfeuer dauernd aus der Flanke bestrichen. Die Leute kann man aus ihrer
Hölle nicht zurückziehen; der Graben ist ganz schmal und noch nicht ausgebaut,
nirgends in der Nähe kann man die Leute unterbringen. Und drüben auf 400 Meter
liegt der Feind und lauert, ob wir sturmreif sind. Lage um Lage saust auf uns
nieder!
Langsam,
unendlich langsam verrinnt die Zeit. Hin und wieder können wir aufatmen und
hinübersehen, wie die Kirche hinter uns ganz in Rauch und Staub verschwindet,
ein Stück um das andere vom Dach und Turm herunterbröckelt. Ein schwacher
Trost, daß offenbar nur Feldbatterien schießen. Dann werden wir selbst wieder
zugedeckt. Hier tönt lautes Jammern eines Getroffenen, dort dringt in meiner
Nähe hinter einer Erdmauer ununterbrochen lautes Beten zu mir her. Mehr als
einmal prasseln abgeschlagene Äste, fallen Eisenteile und Erde auf mich nieder.
Warten müssen, den Kerl da drüben nicht am Kragen packen können, warten müssen,
die Zähne zusammenbeißen, bis der Tod kommt oder die gräßliche Verstümmelung!
Stunde um Stunde vergeht. Endlich, endlich läßt das Feuer nach, werden die
Lagen seltener. Es ist ½5 Uhr geworden, der Tag geht zu Ende.
Vorsichtig
richten wir uns auf. allmählich kehrt der frohe Mut wieder. Es bleibt ruhig.
Kommt jetzt der letzte Anlauf der feindlichen Infanterie? Doch vom Feind zeigt
sich nichts neues, er scheint fürs erste genug zu haben. Als es dämmert, kommt
der 3. Zug der 9. Kompagnie zur Entlastung. Wie freut man sich, sich
wiederzusehen! Nun kann ich’s wagen, aus dem Graben zu steigen und mich
umzusehen. Der Laufgraben ist an mehreren Stellen völlig verschüttet. Im
Friedhof liegt ein wüster Haufen von Grabsteinen, einzelne Gräber sind
aufgewühlt, die gegen die Franzosen deckende Mauer ist völlig verschwunden, das
große Eisentor ist ein wirrer Knäuel. Am linken Flügel sind 2 Unterschlüpfe völlig
zusammengeschossen, der Graben völlig verschüttet. Da liegt Vizefeldwebel
Süßkind tot und starr. Seine Beförderung zum Offizier hatte ihn nicht mehr
lebend erreicht. Krankenträger kommen und suchen die Gräben ab. Stabsarzt Dr.
Bingel sucht zu helfen wo er kann, kriecht in den engen Gräben umher, um die
erste Hilfe selbst zu bringen. Sie finden reiche Arbeit. Wir stehen im Graben,
aufgerüttelt bis ins Innerste bei so viel Elend, das wir um uns sehen und jeder
sucht vor dem andern die hellen Tränen zu verbergen, als die Toten und
schwerverwundeten Kameraden fortgetragen werden. Insgesamt fielen hier auf dem
engen Platz um die Kirche 12 tot, 40 verwundet aus.
Nun waren
die Anordnungen für die Nacht zu treffen. Der Graben mußte instandgesetzt und
scharfe Wacht gehalten werden. Geschützte Räume gibt’s nicht mehr, so muß alles
im Graben liegen bleiben.
Auf
einmal ist beim Gegner drüben Bewegung zu beobachten. Der Vollmond steht am
Himmel. Mit dem Glas kann man eine Menschenreihe feststellen, die sich
auseinander zieht. Der Aufstellung nach scheinen sie schanzen zu wollen.
Täuschen wir uns nicht? Man glaubt Stimmen zu hören, ärgerliche,
widersprechende. So, als ob die Leute mit der Anordnung nicht zufrieden wären.
Und nach ein paar Minuten verschwinden sie alle im Walde wieder.
So
vergehen die Stunden der Nacht. Da kommt endlich die langersehnte Ablösung. 3
Schwadronen des Saarburger Ulanen-Reg. 15 übernehmen die Stellungen. Sie waren
bei Ypern gewesen und waren die Sache schon eher gewohnt. Die 9. Kompagnie kam
nach Oelenberg, die 10. und 14. nach Schweighausen in Reserve.““
aus: „Das Württembergische Landwehr-Inf.-Regiment
Nr. 119 im Weltkrieg 1914–1918“, Stuttgart 1923