„Hermann Dopffel,
mein ältester Sohn, geboren 6. April 1885 in Reutlingen, wo ich damals
Stadtpfarrer war, besuchte dort das Gymnasium, dann, infolge meiner
Übersied-lung als Dekan nach Geislingen a. St., das dortige Lyzeum, seit 1901
die obersten zwei Klassen des Karlsgymnasiums in Stuttgart. Vom Herbst 1903 an
diente er in Tübingen sein Einjährigenjahr ab. In die Verbindung trat er am 22.
Oktober 1903.
Körperlich sehr
kräftig, geistig aufgeschlossen und rege, frisch und freudig, von
sinnig-phantasievollem und unternehmendem Wesen, hat er selbst viel zur
reichen, ungetrübt glücklichen Gestaltung seiner Kindheit und Jugend
beigetragen und hat seinen zwei jüngeren Brüdern als treuer, erfinderischer
Führer ein gutes Teil ihres Kindheitsglücks mitgebaut. Die Spiele und
Wanderungen in den Geislinger Wäldern und Bergen, der Bodensee, wo er
alljährlich einige Wochen weilen durfte und frühe in tüchtiger Schwim-mer und
Segler wurde, legten in ihm den Grund zu inniger Vertrautheit mit der Natur und
machten ihn zum Wanderer, der zu Fuß, zu Rad oder mit dem Motor mit scharfen
sicherem Auge in jeder Gegend den Weg fand, und alle Schönheit tief in sich
aufnahm nach seinem Wahlspruch: „Trinkt ihr Augen, was die Wimper hält, von dem
goldnen Überfluß der Welt!“ Bei der Wahl des Studiums schwankte er eine
Zeitlang zwischen Jurist und Architekt. Zu letzterem zog ihn sein
ausgesprochener Sinn für jede Art der bildenden Kunst und seine schöne
zeichnerische Gabe, sowie die dem praktischen Leben zugewandte Seite seines
Wesens. Er entschied sich aber doch für das Jus, dem er auch eine deutliche
Veranlagung entgegenbrachte. Seine im Grunde ernste Sinnesart ließ während der
Studienzeit das Ziel nie aus den Augen. Aber daneben gab er sich mit frischem
Lebensdrang und fröhlichem Jugendmut der studentischen Freiheit hin. Ein lieber
Hausgenosse der Haarerei bezeugt es ihm, „daß er einer der fröhlichsten in
ihrem Kreise war, jederzeit bereit, sein Teil zur Freude beizusteuern“. Die
normännischen Angelegenheiten waren ihm Herzenssache.
Der Gang seiner
Studien erlitt eine jähe Unterbrechung in seinem 4. Studiensemester in Leipzig
durch eine nervöse Depression, von deren Anbahnung auch die Eltern bei der in
jeder Beziehung so kräftigen Veranlagung des Sohns keine Ahnung hatten. Langsam
erholte er sich wieder. In seinem innersten Wesen durch die schweren
Hemmungserfah-rungen merklich gereift, arbeitete er daheim und im Tübinger
Normannenhaus auf den akademischen Abschluß hin, der ihm durch ein gutes Examen
besiegelt wurde. Während seiner Heilbronner Referendarjahre gewährte ihm
besondere Befriedigung die Teilnah-me an einem mehrmonatlichen
staatswissenschaftlichen Kurs in Berlin, der ihn auch nach Lübeck und Hamburg
führte. Ganz heimisch machte er sich damals im Berliner Kaiser
Friedrich-Museum, wo er sich ein über das Dilettantische hinausgehendes
Ver-ständnis der Kunst, besonders der Niederländer, aneignete. Sehr dankbar war
er für viele Freundlichkeit, die er in Berlin in einer Reihe von Familien,
besonders in den Häusern älterer Bundesbrüder, erfahren durfte.
Nach dem zweiten
Examen befriedigte ihn die praktische Tätigkeit als Assessor in Waldsee und
Cannstatt und als Mitarbeiter der Rechtsanwälte Dr. Kielmeyer und Dr. Scheuing
in Stuttgart in hohem Maß. Im Juli 1914 wurde ihm die Stelle als zweiter
Justitiar bei Benz in Mannheim übertragen. Aber ehe er sie antrat, brach der
Krieg aus und machte das Weiterbauen au den Grundlagen unmöglich, die für einen
tüchtigen bürgerlichen Lebensbau gelegt waren. Gleich seinen zwei jüngeren
Brüdern ging er sogleich mit Kriegsbeginn als Leutnant d. R. ins Feld. Mit dem
3. Batl. des Heilbronner Füsilier-Regiments fuhr er am 7. August westwärts.
Schon am 24. August wurde ihm in der Schlacht bei Longuyon der Oberschenkel
durchschossen. Viele Stunden im Wald liegend und der Erschöpfung nahe, wehrte
er, durch einen Baumstamm gedeckt, ver-sprengte Franzosen ab, die ihn aus
nächster Nähe beschossen. Besonnene Furchtlosig-keit hatte sich auch schon
früher als ein Grundzug seines Wesens bekundet. Es war keine Übertreibung, wenn
ihn später der Nachruf des Regts. 122 „einen Mann von größter Unerschrockenheit
und vorbildlicher Tapferkeit“ nannte. In seine Genesungszeit fiel der Heldentod
seines Bruders Helmut am 21. Oktober 1914 bei Bezelaere, der ihn tief
erschütterte. Langsam bis zur Garnisonsdienstfähigkeit hergestellt, wurde er
zum Lehr-Regiment für Reserve-Offiziersaspiranten im Lockstedter Lager
kommandiert. Er war mit dem Herzen bei seiner dortigen Aufgabe, die fast ein
Jahr währte. Die Aspi-ranten durften es fühlen, daß sie einen pädagogischen
Freund an ihm hatten. Der Ver-kehr mit den norddeutschen Kameraden und mit den
Bundesbrüdern der Umgebung bot ihm viel Anregung. Die freie Zeit und die Nähe
von Hamburg benützte er dazu, in Fortführung früherer Beschäftigung mit den
Siedlungsfragen zwei Denkschriften auszuarbeiten: „Das Ansiedlungswesen des
Deutschen Reiches nach dem Krieg; Unter-suchungen und Vorschläge. Januar 1916“;
dazu: „Richtlinien und Vorschläge zur Aus-gestaltung der Anbau- und
Siedlungsverhältnisse in den im Osten vom deutschen Heere besetzten Gebieten.
März 1916. Im Zusammenhang mit diesen Arbeiten wurde er im März 1916 an die mit
dem preußischen Kriegsministerium verbundene Stelle für deutsche Rückwanderer
in Berlin versetzt. Über seine Lockstedter Zeit liegt die Äuße-rung seines
Regimentskommandeurs vor, die ihm bei einer späteren Gelegenheit mit Absicht
offen in die Hand gelegt wurde, „D. hat seine Stellung in sehr guter Weise
ausgefüllt, Sein Kompagnieoffizier hatte eine ausgezeichnete Stütze an ihm.
Seine ernste Lebens- und Dienstauffassung, sein kameradschaftliches Verhalten,
seine außer-dienstlichen schätzenswerten Bestrebungen und wissenschaftlichen
Arbeiten betreffs Ansiedlungen im Kriegsgebiet sicherten ihm eine
ausgezeichnete Stellung als Mitglied des Offizierskorps. ( … )
Von Berlin aus kam
er in mehrfacher Sendung nach Polen, Wolhynien, Schlesien um den Transport
deutscher Rückwanderer zu leiten. Dann wurde er durch den Chef der deutschen
Verwaltung für Litauen, Fürst zu Isenburg, an die Zentrale dieser Verwaltung in
Kowno angefordert. Von Kowno schrieb er heim, wie wundersam ihn bei den
Ausritten mit den Herren der Verwaltung der Ausblick nach Osten dem weiten
Rußland entgegen anmutete ( … ).
Trotz der hohen
Befriedigung, die ihm seine Stellung in Kowno gewährte, kam über ihn ohne besonderen Anlaß, wohl im
Zusammenhang mit den allzu großen Anforderungen, die er an die eigene Kraft
gestellt hatte, eine nervöse Depression ähnlich der einst in Leipzig erlebten,
Von einem Heimaturlaub mit der Aussicht auf Rückkehr nach Kowno hoffte man
Wiedererholung. Leider erwies sich alle Liebe und Fürsorge gegenüber dem
krankhaften Hemmungszustand als vergeblich. Das Gefühl, daß die Kraft gerade in
dieser großen Zeit und auf der Höhe seiner Aufgabe versagt hatte, hinderte als nieder-drückende
Last den Wiederaufstieg. Er brachte es nicht über sich, sich die genügende Zeit
zur Erholung zu lassen und wollte durch Annahme einer ihm angebotenen
Gerichtsoffiziersstelle in Cambrai vor seiner Rückkehr nach Kowno seine
Leistungs-fähigkeit erproben. Die Vorbereitungen zur Abreise überstiegen seine
Kräfte. Wie eine Mauer türmte sich das Neue plötzlich vor dem krankhaft
getrübten Auge auf. Wenige Stunden vor dem Abreisetermin am 29. November 1916
setzte er durch eigene Hand seiner Laufbahn das Ende – ein Ausgang, über dem
nicht freies Handeln, sondern der Zwang der Krankheit obwaltete. Die Wogen der
Zeit schlugen über dem irdischen Teil eines Lebens zusammen, das wertvolle Früchte
gezeitigt hat und das noch reicheren Ertrag versprach.
Heilbronn.
Der Vater: Hermann Dopffel.“
aus:
„Gedenkbuch der Tübinger Normannia für ihre Gefallenen.“ Stuttgart, 1921
Bild: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Bestand M 708