Donnerstag, 29. Juni 2017

29. Juni 1917


„Der 29. Juni wurde für den Sturm bestimmt. Solange die Sturmtruppen in verschie-denen Bereitschaftslagern und in der Hagenstellung lagen und die letzten Vorberei-tungen trafen, setzte am Abend des 28. Juni ein mehrstündiges heftiges Artillerie- und Minen-Vorbereitungsfeuer ein. Während aber drüben am Entenschnabel der Angriff der Nachbardivision alsbald dem Vorbereitungsfeuer folgte, blieb in Stuttgart IV und der vom Regiment als Sturmausgangsstellung mitübernommenen Stellung „Quelle A 1“ alles ruhig. Die während des Feuers fast ganz zurückgezogene 2. Kompagnie besetzte die ganzen Stellungen nach Aufhören des Artilleriefeuers wieder und arbeitete eifrig daran, den 1. Graben, der von dem eigenen Feuer auf die nahe gegenüberliegende feindliche Stellung stark mitgenommen war, einigermaßen wieder gangbar zu machen, bis die Sturmtruppen kamen. Diese trafen im Laufe der Nacht in den ihnen angewie-senen Stellen ein, zuerst die fünf Stoßtrupps A – E, zusammengesetzt aus meist jünge-ren Leuten des I. und III. Bataillons, sowie einigen Pionieren der 1. württ. L.-Pi.* Dann kamen die drei „Sturmzüge“ jeder Sturmkompagnie, 6., 7. und 8. Kompagnie. Diese Kompagnien hatten außerdem je noch einen besonderen vierten Zug als Trägerzug gebildet. Die drei Trägerzüge wurden zunächst im Höhenlager untergebracht zusammen mit der 5. Kompagnie, die als Schanzkompagnie den Auftrag hatte, nach dem Sturm gleich die Verbindungsgräben nach den neu gewonnenen Stellungsteilen auszuheben.
Nach 11 Uhr nachts wurden unter dem Schutz des Getöses lebhaften eigenen Artillerie- und Minenfeuers sieben Gassen in die eigenen Hindernisse gesprengt. Dann stellten Patrouillen der Stoßtrupps fest, daß die feindlichen Hindernisse meist ausreichend zerstört und daß die feindlichen Gräben einschließlich des vordersten noch besetzt waren.
Um ½ 7 Uhr am Morgen des 29. Juni stellten sich die Sturmtruppen an den Sturmaus-gangsstellengenau in der Ordnung bereit, die am Übungswerk eingelernt war. Um ¾ 7 Uhr setzte schlagartig ein kurzes Vorbereitungsfeuer ein; nach 5 Minuten wurde es vorverlegt und der Sturm brach los, voraus die Stoßtrupps, dann die Kompagnien in mehreren Wellen. Schneidig sprangen die Leute aus dem Graben, über die Reste der Hindernisse und über die Trichter. Am leichtesten kam der rechte Flügel, Stoßtrupp A und B und 6. Kompagnie voran; ohne wesentlichen Widerstand wurde nicht nur der feindliche 2. Graben, der hier das Ziel bildete, erreicht, sondern in Frischem drauflos-stürmen ein etwa 80 m weiter entfernter Graben genommen und besetzt; allerdings merkte man gar nicht gleich, daß man weiter vorgekommen war, als befohlen; denn die vordersten Gräben waren so zusammengeschossen, daß man sie kaum als solche erkannte. So meldete schon 6.58 Uhr der Kompagnieführer der 6. Kompagnie, Ober-leutnant Laepple, aus der neu gewonnenen Linie, daß das Ziel erreicht sei. Auch bei der mittleren Kompagnie, der 7. unter Hauptmann Müller, gab es nur geringen Widerstand. Das Hindernis, das hier an einzelnen Stellen nicht ausreichend zerstört war, wurde teils umgangen, teils von dem Stoßtrupp D durchschnitten trotz Gegenwehr mit Handgra-naten aus dem 2. französischen Graben. Dann fanden die Sturmtruppen keinen weiteren Widerstand mehr und gelangten gleichfalls über die befohlene Linie hinaus bis zu einem quer in west-östlicher Richtung sich hinziehenden Sträßchen. Die Stoßtrupps C und D stießen noch ein gutes Stück über dieses Sträßchen vor, ohne Unterstände oder Feinde zu finden; sie meldeten, daß der Gegner sich durch die Mulde zurückziehe, die man von der neu erreichten Stellung übersehen konnte. Kurz nach der 6. meldete so auch die 7. Kompagnie, daß das Ziel erreicht sei. Schwieriger ging es am linken Flügel beim Stoßtrupp E und der 8. Kompagnie unter Leutnant Dr. Reichert. Hier leisteten die französischen Posten mit Gewehr und Handgranate erbitterten Widerstand. Ein Mann eines Doppelpostens wurde durch Unteroffizier Lorbeer (2. Komp.) durch Pistolenschuß getötet, sein Nebenmann gefangen genommen; ein anderer Posten von drei Mann wurde durch Vizefeldwebel Gawatz (8. Komp.) mit seinen Leuten umgangen und durch Handgranaten erledigt. Der Kompagnieführer selbst, der in einem Graben mit einigen Leuten voreilte, traf auf zwei Unterstände, deren Besatzung, 1 Offizier und 21 Mann, sich gefangen gab. Dagegen versuchte ein anderer französischer Offizier mit einer Gruppe einen Gegenstoß von Osten her; er wurde im Handgranatenkampf abgewehrt. Erst wesentlich später als die anderen Kompagnien konnte so die 8. Kompagnie den Erfolg ihres Vorstoßes melden, der übrigens wie bei diesen die vorgeschriebene Linie gleichfalls wesentlich überschritten hatte. Die Kompagnie ging aber auf diese Linie zurück und ebenso im wesentlichen die 7. Kompagnie. Erst jetzt, als man die Verbin-dung aufnahm und den Anschluß an die alte Linie herstellen wollte, entdeckte man bei der 6. Kompagnie, daß man viel weiter vorgekommen war, als vorgesehen. Da aber die neu erreichte Linie einen sehr guten Einblick in die Mulde gewährte, so erhielt die Kompagnie den Befehl, die tatsächlich erreichte Linie zu halten und auszubauen. Sie bekam dazu, weil der raum wesentlich größer war, als ursprünglich in Aussicht genom-men, auch Teile der 2. Kompagnie zur Verfügung gestellt.
Die Verluste beim Sturm waren sehr gering gewesen; 2 Offiziere und etwa 80 Mann vom (Jäger) Reg. 255 waren gefangen; feindliche Gegenwirkung machte sich zunächst nicht bemerkbar; so war die Stimmung allgemein eine gehobene und mit Feuereifer ging man an den Ausbau und die Einrichtung der neuen Linie, das Abdämmen der zum Feind führenden Verbindungsgräben, die Herstellung eines leichten Drahthindernisses und eines durchlaufenden Grabens. Die Trägerzüge der Sturmkompagnien brachten uner-müdlich Material vor; die 5. Kompagnie begann mit der Herstellung neuer Verbin-dungsgräben. Ihr Führer, Leutnant Schempp I, war schon beim Vormarsch verwundet worden; er leitete aber noch drei Stunden lang die Arbeiten, bis er einen Schwächeanfall erlitt. Seine Verwundung war gefährlicher, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Die ersten schweren Schläge brachte das eigene Riegelfeuer. Die Linie, die jetzt ausge-baut wurde, lag bei der 6. Kompagnie noch in dem Bereich, der für das Riegelfeuer vorgesehen war; wohl wurde sofort auf die Meldung der Infanterie hin eine Vorver-legung des Feuers angeordnet. Aber dieser Befehl erreichte infolge der Zerstörung der Fernsprechverbindung vor allem nicht alle leichten Minenwerfer. So schlugen einige Minen gerade in den neuen vordersten Graben und ihnen fielen im Bereich der 6. und 7. Kompagnie je eine Maschinengewehrbedienung der 2. M.-G.-K. zum Opfer, bei der 6. Kompagnie außerdem auch noch einige Leute der Kompagnie selbst, die neben dem Maschinengewehr standen. Unter ihnen war auch der treffliche Vizefeldwebel Held, der kühne Patrouillenführer und unermüdliche Stellungsbauer, der wegen seines Humors und seines gesunden Menschenverstandes bei Vorgesetzten und Untergebenen gleich beliebt war. Eben erst hatten ihn die Kameraden noch auf dem Rande des neugewon-nenen Grabens stehen sehen, wie er jauchzend seinem Nachbarzugführer zugewunken hatte; nun lag er tot inmitten eines Haufens toter Kameraden.“

aus: „Das Württembergische Landw.-Infanterie-Regiment Nr. 125 im Weltkrieg 1914-1918“, Stuttgart 1926


*Württembergische Landwehr-Pionier-Kompagnie Nr. 1

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