„Wehmütig
hatte ich von der stolzen, unerbittlichen Größe des Schwarzen Meeres Abschied
genommen; wer wußte, ob wir es noch einmal wiedersehen sollten. Nach endlos
langer, viertägiger kalter Fahrt – noch vor wenig Wochen hatte der Schnellzug
für dieselbe Strecke ebensoviele Stunden benötigt – kamen wir in Elisabethgrad
an. Große Erkundungsritte und Übernahme verlassenen und gestohlenen Heeresguts
war in der nächsten Zeit unsere Arbeit.
Die
benachbarten Eisenbahnknotenpunkte Snamienka und Nowo-Ukrainka waren als
Hauptetappenorte für die Heimreise vorgesehen. Sie sollten das Bindeglied
zwischen der Schwarzmeerküste und Kiew – Kowno – Kowel bilden. Der Bahnschutz
war einigen Landsturm-Regimentern übertragen, die mit denn Tagen der Revolution
das Ehrgefühl eines deutschen Soldaten verloren hatten, was wehmütig selbst die
Abgesandten des großen Soldatenrats von Nikolajew feststellen mußten. An ihre
Kameraden im Süden und Osten dachten diese Leute nicht mehr. Auf eigene Faust
verließen sie die ihnen übertragenen Posten und ließen, was hinter ihnen war,
im Stich. Die Furie der Zwie-tracht war in die vor Tagen noch „deutschen“
Soldaten gefahren. Sie haben alle furchtbar gebüßt für begangene Ehrlosigkeit,
Auch das in Elisabethgrad stationierte Bataillon glaubte sich seiner Pflicht
enthoben und beschloß, allen Warnungen und Bitten zum Trotz, am 18. Dezember in
die Heimat abzufahren. Unsere kleine Schar mußte sich befehlsgemäß dem
Bataillon anschließen.
Nur
das Allernotwendigste wurde verladen und am frühen Morgen sollten wir
wegfah-ren. Da weigert sich der ukrainische Bahnhofskommandant, die
erforderlichen Maschinen herauszugeben. Wir haben eine furchtbar erregte
Unterredung mit ihm. „Gebt Eure Waffen ab, und Ihr könnt fahren, wohin Ihr
wollt!“ ist seine letzte Antwort. Wir traten mit diesem Bescheid vor das
Bataillon. Da flammt in ihm noch einmal Wut und Besonnenheit auf. „Ohne Waffen
sieht keiner die Heimat von uns. Wir wollen uns die Maschinen holen.“ Das
Bajonett wurde aufgepflanzt, eine Kompagnie rückt gegen den Bahnhof, der ohne
Schuß besetzt wird. Die ukrainische Besatzung ist geflohen. Eben holen wir die
erste Maschine aus der Werkstätte, da kracht ein Schuß und mit ihm geht’s los,
als sollte es ein bitteres Kämpfen geben. Die Arbeiterschaft Elisabethgrads hat
sich bewaffnet, Gesindel, das auf Raub lüstern ist, verstärkt die regulären
Truppen und in erdrückender Übermacht zieht es gegen uns heran. Aber deutsche
Soldaten stehen da und tun wieder ihre Pflicht. Besonders die Kompagnie, die
uns den Bahn-damm öffnen soll, geht immer noch vorwärts. Wir haben in der
Zwischenzeit den Zug zusammengestellt, und sobald der Weg frei ist, können wir
nach Snamienka weg, wo deutsche Truppen sind, die wir telegraphisch um Hilfe
rufen.
Sie
lassen uns im Stich! Und plötzlich zuckt’s auch bei uns zusammen. Schwere
Verluste und Müdigkeit lassen das wackere Häuflein wanken. Wir bekommen nicht
mehr genug Munition. Und schon gellt der verräterische Ruf: „Werft die Waffen
weg!“ Wir jungen Offiziere versuchen nochmals das Letzte. Es ist zu spät. Die
Leute gehen nicht mehr mit. Und der rasende Feind, der die Bahnstrecke schon
freigegeben hatte, stürzt sich mit blutiger Gier wieder auf uns. Leutnant Groß
hat während des Gefechts einen Maschinengewehrzug übernommen. Unentwegt schießt
er mit seinen Getreuen in die anstürmenden Horden. Da sinkt er, aus nächstem
Hinterhalt überrascht, mit all seinen Leuten zu Tode getroffen, zusammen. Kein
Halten mehr, flüchtend gehen wir zurück. Schon hat sich ein Teil ergeben. Dort
werfen andere die Waffen weg. Und endlich ist auch der Rest in den Händen der
rasenden Bestien. Viele werden wie Hunde niedergeschlagen, alle beraubt. Dann
werden wir zu Paaren getrieben und in langem traurigem Zug geht’s am düsteren
Abend der Stadt zu. In eine Kaserne werden wir geworfen und wir Offiziere von
den feindlichen Führern zur Verlustigung mit dem Revolver auf unserer Stirne
bedroht. Allein, noch hat diese Horde Angst vor uns 400 Menschen. Noch in dieser
Nacht sollen die Mannschaften in den ausgeplünderten Zügen heimwärts ziehen,
falls sie ohne Offiziere und Soldatenrat gehen. Darauf gingen die Mannschaften
ein und fuhren in derselben Nacht von Elisabethgrad ab.
Wir
Zurückgebliebenen wandern ins Gefängnis. Erlassen sei mir eine Schilderung der
bangen 70 Tage, die wir dort erlebt.“
aus: „Das Württembergische
Landwehr-Feld-Art.-Regiment Nr. 1 im Weltkrieg 1914–1918“ׅ, Stuttgart 1922
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