Dienstag, 18. Dezember 2018

18. Dezember 1918



„Wehmütig hatte ich von der stolzen, unerbittlichen Größe des Schwarzen Meeres Abschied genommen; wer wußte, ob wir es noch einmal wiedersehen sollten. Nach endlos langer, viertägiger kalter Fahrt – noch vor wenig Wochen hatte der Schnellzug für dieselbe Strecke ebensoviele Stunden benötigt – kamen wir in Elisabethgrad an. Große Erkundungsritte und Übernahme verlassenen und gestohlenen Heeresguts war in der nächsten Zeit unsere Arbeit.
Die benachbarten Eisenbahnknotenpunkte Snamienka und Nowo-Ukrainka waren als Hauptetappenorte für die Heimreise vorgesehen. Sie sollten das Bindeglied zwischen der Schwarzmeerküste und Kiew – Kowno – Kowel bilden. Der Bahnschutz war einigen Landsturm-Regimentern übertragen, die mit denn Tagen der Revolution das Ehrgefühl eines deutschen Soldaten verloren hatten, was wehmütig selbst die Abgesandten des großen Soldatenrats von Nikolajew feststellen mußten. An ihre Kameraden im Süden und Osten dachten diese Leute nicht mehr. Auf eigene Faust verließen sie die ihnen übertragenen Posten und ließen, was hinter ihnen war, im Stich. Die Furie der Zwie-tracht war in die vor Tagen noch „deutschen“ Soldaten gefahren. Sie haben alle furchtbar gebüßt für begangene Ehrlosigkeit, Auch das in Elisabethgrad stationierte Bataillon glaubte sich seiner Pflicht enthoben und beschloß, allen Warnungen und Bitten zum Trotz, am 18. Dezember in die Heimat abzufahren. Unsere kleine Schar mußte sich befehlsgemäß dem Bataillon anschließen.
Nur das Allernotwendigste wurde verladen und am frühen Morgen sollten wir wegfah-ren. Da weigert sich der ukrainische Bahnhofskommandant, die erforderlichen Maschinen herauszugeben. Wir haben eine furchtbar erregte Unterredung mit ihm. „Gebt Eure Waffen ab, und Ihr könnt fahren, wohin Ihr wollt!“ ist seine letzte Antwort. Wir traten mit diesem Bescheid vor das Bataillon. Da flammt in ihm noch einmal Wut und Besonnenheit auf. „Ohne Waffen sieht keiner die Heimat von uns. Wir wollen uns die Maschinen holen.“ Das Bajonett wurde aufgepflanzt, eine Kompagnie rückt gegen den Bahnhof, der ohne Schuß besetzt wird. Die ukrainische Besatzung ist geflohen. Eben holen wir die erste Maschine aus der Werkstätte, da kracht ein Schuß und mit ihm geht’s los, als sollte es ein bitteres Kämpfen geben. Die Arbeiterschaft Elisabethgrads hat sich bewaffnet, Gesindel, das auf Raub lüstern ist, verstärkt die regulären Truppen und in erdrückender Übermacht zieht es gegen uns heran. Aber deutsche Soldaten stehen da und tun wieder ihre Pflicht. Besonders die Kompagnie, die uns den Bahn-damm öffnen soll, geht immer noch vorwärts. Wir haben in der Zwischenzeit den Zug zusammengestellt, und sobald der Weg frei ist, können wir nach Snamienka weg, wo deutsche Truppen sind, die wir telegraphisch um Hilfe rufen.
Sie lassen uns im Stich! Und plötzlich zuckt’s auch bei uns zusammen. Schwere Verluste und Müdigkeit lassen das wackere Häuflein wanken. Wir bekommen nicht mehr genug Munition. Und schon gellt der verräterische Ruf: „Werft die Waffen weg!“ Wir jungen Offiziere versuchen nochmals das Letzte. Es ist zu spät. Die Leute gehen nicht mehr mit. Und der rasende Feind, der die Bahnstrecke schon freigegeben hatte, stürzt sich mit blutiger Gier wieder auf uns. Leutnant Groß hat während des Gefechts einen Maschinengewehrzug übernommen. Unentwegt schießt er mit seinen Getreuen in die anstürmenden Horden. Da sinkt er, aus nächstem Hinterhalt überrascht, mit all seinen Leuten zu Tode getroffen, zusammen. Kein Halten mehr, flüchtend gehen wir zurück. Schon hat sich ein Teil ergeben. Dort werfen andere die Waffen weg. Und endlich ist auch der Rest in den Händen der rasenden Bestien. Viele werden wie Hunde niedergeschlagen, alle beraubt. Dann werden wir zu Paaren getrieben und in langem traurigem Zug geht’s am düsteren Abend der Stadt zu. In eine Kaserne werden wir geworfen und wir Offiziere von den feindlichen Führern zur Verlustigung mit dem Revolver auf unserer Stirne bedroht. Allein, noch hat diese Horde Angst vor uns 400 Menschen. Noch in dieser Nacht sollen die Mannschaften in den ausgeplünderten Zügen heimwärts ziehen, falls sie ohne Offiziere und Soldatenrat gehen. Darauf gingen die Mannschaften ein und fuhren in derselben Nacht von Elisabethgrad ab.
Wir Zurückgebliebenen wandern ins Gefängnis. Erlassen sei mir eine Schilderung der bangen 70 Tage, die wir dort erlebt.“

aus: „Das Württembergische Landwehr-Feld-Art.-Regiment Nr. 1 im Weltkrieg 1914–1918“ׅ, Stuttgart 1922

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