Dienstag, 30. Juni 2015

30. Juni 1915


„Nach sorgfältigem Einschießen unserer Geschütze und Minenwerfer, unter denen sich zahlreiche Schwere Kaliber befanden, war schließlich der denkwürdige 30. Juni gekommen. Kaum zeigte sich das erste Frührot über den dunklen Wäldern, da entwickelte sich in den Gräben ein Gehen und Hasten, ein  Schieben und Drängen, ein Laufen und Rennen: die Infanterie zog heran und stellte sich an den befohlenen Plätzen bereit. Sturmkompagnien in erster Linie waren von rechts nach links 5., 7., 3., 4. Kompagnie, hinter denen als Unterstützung der Rest ihrer Bataillone stand. Als Regimentsreserve war weiter das III. Bataillon an die Totenmannmühle und ans Zerbsterlager herangeholt worden. Pünktlich 5.15 Uhr früh unterbrachen ein erster Minenschlag, ein erster Kanonenschuß die Ruhe des Morgens und in hundertfältigem Widerhall fiel die ganze Artillerie ein, die 3½ Stunden lang ihren Eisenhagel über den Stellungen der Franzosen niederprasseln ließ. Schuß auf Schuß saß in der feindlichen Stellung und grauenvoll mußte es für diejenigen gewesen sein, die dieses Feuer aushalten mußten. Ganze Blockhäuser flogen in die Luft, Holzverschalungen brannten lichterloh, Palisaden zersplitterten in tausend Fetzen und zwischenhinein schlug in den viertelstündigen Feuerpausen der Artillerie auch noch das Feuer unserer Maschinen-gewehre. Den letzten Widerstand sollten schließlich zwei in die Stellung E vorgezogene Feldgeschütze brechen, die über Visier und Korn hinweg aus kürzester Entfernung in die feindliche Stellung hineinschossen.
Und trotz einer solchen Feuerwirkung schoß der Gegner noch, als 8.45 durch den in den Sträuchern sich haltenden Rauch und Qualm hindurch die acht Sturmkolonnen des Regiments zusammen mit den mit Drahtscheren ausgerüsteten Pionieren aus den Sappenköpfen vorbrachen. Verzweifelt versuchten einzelne Maschinengewehre und Infanteriereste in tapferster Gegenwehr den Angriff der Deutschen zu brechen; ihre Kraft war zu gering, abgeschnitten von jeder Hilfe, konnten sie nur noch ihre Haut so teuer als möglich verkaufen. Das deutsche Feuer hatte entsetzlich gewirkt: tot, verwundet, zerquetscht, blutend stöhnend, verstört lagen die Franzosen in ihrem vorderen Graben, als die deutschen Sturmwellen darüber hinwegbrausten. Das Drahtverhau war zerschnitten und zerschossen und nichts hemmte den Einbruch der in mehrere Linien gegliederten Angriffskompagnien in die gegnerische Stellung, die teilweise mit Kavallerieschützen besetzt war. Tapfer waren auch sie, aber den kampfgewohnten Infanteristen doch nicht gewachsen. Beim II. Bataillon ging es, trotz erheblicher Verluste schon beim Überschreiten des Drahthindernisses, ausgezeichnet vorwärts und nach kurzem Handgranatenkampf war nicht nur die 1., sondern 9.05 Uhr bereits die 2. feindliche Linie genommen. Aber auch hier ließen sich 5. und 7. Kompagnie unter ihren Führern Leutnant Lieb und Leutnant d. R. Hartmann nicht halten und verstärkt und mitgerissen durch die einschwärmende 6. Kompagnie gingen sie gegen den 3. Graben des Feindes vor, der beim Fehlen eines weiteren Widerstandes glatt genommen wurde. Trotzdem damit die befohlene Linie erreicht war, ließen sich einzelne Gruppen verleiten, noch weiter vorzudringen und mit Teilen des I. R. 124 den Franzosen bis an den ins Biesme-Tal abfallenden Hang zu folgen. Dort stießen sie auf überlegene Kräfte und mußten unter erheblichen Verlusten – 5. Kompagnie hatte nahezu ihre sämtlichen Zugführer verloren, Leutnant d. R. Hauber und 5 Mann des II. Bataillons blieben vermißt – auf die allgemeine Linie des Bataillons zurückgehen, in der unter Benützung der französischen Gräben eiligst eine Stellung angelegt wurde. Gegen sie rannte der Gegner nach heftiger infanteristischer Feuervorbereitung in starken Gegenstößen mehrmals an. Aber umsonst. Infanteriefeuer und schnell vorgebrachte Maschinengewehre sorgten dafür, daß ihm jeder Erfolg versagt blieb.
Während im Abschnitt des II. Bataillons 400 Meter von der Ausgangsstellung entfernt so eine neue feste Stellung im Werden war, wurde im linken Abschnitt beim I. Bataillon noch heftig gekämpft. Die 3. Kompagnie, die Oberleutnant a. D. Aich führte, war im Anschluß an das II. Bataillon mit ihrem rechten Flügel noch auf gleicher Höhe mit diesem geblieben, weiter nach links aber fiel das Bataillon zurück, da sein linker Flügel, die 4. Kompagnie unter Hauptmann Freiherr von Perfall, von einem Blockhaus her längere Zeit schärfstes Feuer erhielt und empfindliche Verluste der ersten Wellen hinnehmen mußte. Von den Besten wurden dabei Vizefeldwebel Schmidt 3. Kompagnie und Unteroffizier Preising 4. schwer verwundet. Aber es gelang, schließlich auch hier, die erste und zweite feindliche Linie zu nehmen. Der linke Nachbar I. R. 67 dagegen, war über den ersten Graben nicht hinausgekommen und stand vor einer gut ausgebauten, in dichtem Gestrüpp liegenden zweiten Stellung, die nach der Karte deutscherseits der „Grüne Graben“ genannt wurde. Dieser mündete unmittelbar links vom Regiment in die deutsche Linie und bot taktisch die Möglichkeit, vom Grenadierregiment aus den Gegner im Rücken zu fassen. Ehe es aber so weit sein konnte, vergingen lange Stunden von Erkundungen und Tastversuchen, die wiederum Blut kosteten; zunächst war es daher so, daß der Angriff zum Stocken gekommen war und das Festhalten des Erreichten die wichtigste Aufgabe wurde. Nebenher ging das Aufräumen der zusammengeschossenen Franzosenstellung, wo die Verwundeten geborgen, die Gefallenen beerdigt wurden und ein reiches Material in die Hände fiel. Die Reservekompagnien wurden herangezogen, halfen in vorderer Linie mit,  gruben Verbindungswege und bereits in den Mittagsstunden konnten Suppe und Kaffee der Kampftruppe in Speiseträgern zugeführt werden, was bei dem sehr heißen Sommertag äußerst nötig war. Die Mannschaft erhielt dadurch frische Kraft, den neuen Graben zur Verteidigung einzurichten, der bis zum Abend schon ein wesentlich anderes Gesicht hatte, als er von den Franzosen übernommen worden war. Unablässig wurden ihr dazu von den Reservezügen Schanzzeug, Schutzschilde, Sandsäcke, Patronen und Hand-granaten vorgebracht und das ganze Regiment arbeitete mit, den schönen Erfolg des Tages, der mit rund 300 Gefangenen abschloß, sich nicht mehr entreißen zu lassen. Ja, schon wurde nach der nächsten Stellung ausgeschaut, die es noch zu nehmen galt, wenn auch der Erfolg der linken Nachbardivision vollwertig werden sollte.“


aus: „Die Ulmer Grenadiere an der Westfront“, Stuttgart 1920

siehe Skizze unter dem 9. Oktober 1914

Reinhold Böckle (3. von rechts) mit seinem 1916 gefallenen Bruder Friedrich (Mitte)

Bilder aus dem Besitz und mit freundlicher Genehmigung von www.ruvyk.de


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