Montag, 13. Juni 2016

13. Juni 1916


„Auszug aus einem Bericht des Schützen Robert Boxler der 1. M.-G.-K. 119 (jetzt Waldsee) über den 12. und 13. Juni 1916:
Am 12. Juni 1916 mußte die Bedienung von Gewehr 1 (Gefreiter Weidelich, Scholl, Rückert, Boxler und Ordonnanz Ebinger) in die Stellung, um Tote, von denen man nur wußte, daß sie unter einem Unterstand liegen, zu holen. Kaum an der Arbeit, begann wieder ein außerordentlich starkes Trommelfeuer, in dem wir 1½ Stunden verblieben und dann schleunigst den Rückzug antraten. Wir hatten den Tod von 3 Mann, die bisher vermißt waren, einwandfrei festgestellt. Kaum bei der Kompagnie zurück, woselbst uns der Kompagnieführer Hauptmann Nagel sein Lob aussprach, wurde die Kompagnie alarmiert, um die 2. M.-G.-K. abzulösen, welche in dem Trommelfeuer 3 Maschinen-gewehre mit Bedienung eingebüßt hatte. Wir brauchten ca. 5 Stunden, bis wir in dem wahnsinnigen Artilleriefeuer die 1. Linie kurz vor 12 Uhr nachts erreichten. Unser Kompagnieführer begleitete uns bis in die 1. Linie. Er kehrte hernach wieder zurück. Es sollte für lange Zeit das letztemal sein, daß wir diesem beliebten Führer in sein scharfes Auge sehen konnten.
Beim Vorrücken büßten wir 1 Mann durch Nervenschock ein. Seit dem frühen Morgen regnete es unaufhörlich; der Marsch in die Stellung war daher außerordentlich anstrengend. In den Laufgräben versanken wir des öfteren bis an den Bauch in Sumpf und Wasser, so daß wir uns gegenseitig herausziehen mußten. Zuletzt liefen wir über das freie Gelände trotz Verbot unseres Zugführers Leutnant Spatz. Die Stellung sah keinem Schützengraben mehr ähnlich. Nur noch Löcher und dann und wann ein kleineres Stückchen Graben waren zu sehen. Mein Gewehr stand direkt am linken Flügel des Regiments; gleich rechts davon war das Gewehr 3 (Unteroffizier Schaaf). Wir versuch-ten die Stellung etwas einzurichten, bauten unsern Wellblechunterstand etwas aus. Beim Innenausbau förderten wir auch eine 12-Zentimeter-Granate – Blindgänger – zutage. Links von uns bis zum rechten Flügel des Inf.-Regts. 125 war die Stellung auf ca. 100 – 200 Meter nicht besetzt. Angeblich wegen zu starken feindlichen Feuers. Eine Patrouille des Inf.-Regts. 125 kam noch zu uns herüber und stellte dies ebenfalls mit Bedauern fest.
Gegen ¾3 Uhr am 13. Juni begann das feindliche Trommelfeuer; um 4 Uhr war es am stärksten. Wir dachten kaum, den Morgen zu erleben. Das Feuer war von unerhörter Stärke. Ringsherum platzten die schweren und leichten Kaliber; dazwischen fegten die Schrapnells flankierend durch den Graben. Ständig war der Unterstand (Loch) durch das Feuer der platzenden Geschosse erleuchtet. Gegen ¼5 Uhr verlegte der Gegner das Feuer weiter nach rückwärts; Schrapnellfeuer lag trotzdem noch auf unserem Graben. Seine Infanterie ging zum Sturm vor. Als wir auf die Schulterwehr eilten, war der Feind schon ganz nahe am Graben heran, wurde aber durch Handgranaten und Maschinengewehrfeuer abgewiesen. Hierbei fiel 1 Mann (Scheel); anscheinend Kopf-schuß.
Nachdem der Frontalangriff des Gegners abgewiesen war, versuchten wir durch Flankierungsfeuer nach links dessen Durchbruch zwischen uns und 125 zu verhüten, was uns jedoch wegen des unübersichtlichen Geländes (zusammengeschossener Wald) und des Mangels an Leuchtkugeln nicht recht gelang. Überhaupt machte sich bei der Infanterie alsbald der Mangeln an Leuchtkugeln bemerkbar. Wir konnten eine Zeitlang mit solchen aushelfen; aber auch diese waren bald verbraucht. Ebenso fehlte es bald an Handgranaten. Ein Teil der seinerzeit vorgebrachten war verschüttet, verbrauchte Vorräte nicht mehr genügend ergänzt und der Rest war bald verbraucht. Dazu kam noch das schlechte Wetter. Durch den strömenden Regen war das ganze Gelände schlammig und schmierig. Wo man sich hinlegte, war alles Morast. Die Infanterie hatte darunter ganz besonders zu leiden, da bei vielen Soldaten die Gewehre nicht mehr arbeiteten. Die wenigen roten Leuchtkugeln wurden von unserer Artillerie, die wir deshalb in Urlaub vermuteten, nicht beachtet; vielleicht waren auch die Fernsprechleitungen total zerstört, so daß wir an unserem Abschnitt absolut nichts von einem Sperrfeuer, das bei den früheren Gegenangriffen sofort prompt saß, bemerkten. Nur eine eigene 15- oder 21-Zentimeter-Granate wurde im Verlauf des Kampfes direkt vor unseren Graben gesetzt, wodurch wir aber, abgesehen von blauen Stellen auf unseren Rücken von darauf fallenden Erdklumpen herrührend, keine Verluste davontrugen.
Nach ca. 600 Schuß hatte unser Maschinengewehr Ladehemmung, die im Graben beseitigt wurde. Hernach schossen wir in kniender Stellung auf die links von uns schon weit rückwärts stehenden und vorgehenden Kanadier, während das Maschinengewehr Schaaf die Gegner in der Front abhielt. Der Gewehrführer, Gefreiter Weidelich, wurde hierbei verwundet und ich übernahm das Kommando. Kaum hatten wir ca. 100 Patronen verschossen, als ein Infanterieschuß unser Maschinengewehr durch Zertrümmerung der Gleitschiene unbrauchbar machte. Wir schleuderten nun den Patronenzuführer über Deckung und verbrachten die übrige Munition zu Gewehr Schaaf (6 Meter rechts von uns). Diese Gewehr verbrauchte ca. 6000 Schuß. Es gelang ihm, alle Frontalangriffe abzuweisen. Halblinks kam plötzlich eine Abteilung in Gruppenkolonne anmarschiert, die alsbald unter flankierendes Maschinengewehrfeuer genommen wurde und schwere Verluste erlitt.
Neben dem Maschinengewehr hatte ein Grenadier an seinem Gewehr eine kleine Ladehemmung, sprang in den Graben, um besser nachsehen zu können. Kaum war die Hemmung beseitigt und das Gewehr geladen, wollte er gerade nach oben steigen, da stand plötzlich ein Kanadier, der sich auf dem Bauch durch das Ästegewirr heran-geschlichen hatte, auf der Schulterwehr auf und wollte ihn bajonettieren. Der Grenadier drückte ab, so wie er das Gewehr gerade in der Hand hatte, und der Tommy fiel kopf-über auf die Schulterwehr. Dieser Fall soll nur als Beispiel für die Unübersichtlichkeit des Geländes aufgeführt werden. Dieses letzte Grabenstück wurde noch von etwa 40 Mann verteidigt. Alles hoffte auf einen deutschen Gegenangriff. Rechts und links von uns bemerkten wir keinen Kampf mehr. Eine von Leutnant Spatz zur Erkundung nach rückwärts gesandte Patrouille (Schütze Lenz und Ritter) meldete, daß der Laufgraben noch nicht vom Feinde besetzt wäre, daß aber rechts und links davon in kurzer Entfernung bereits Kanadier zu bemerken seien. Leutnant Spatz und der Infanterieführer Leutnant Scheurlen wollten die Stellung nicht aufgeben, glaubten vielmehr, daß ein Gegenstoß unmittelbar bevorstehe.
Leider war dies nicht der Fall. Mittlerweile hatten sich einzelne Gegner bereits in unserer Flanke herangearbeitet und warfen Handgranaten. Anfangs fielen sie zu kurz, später aber fielen sie direkt in unsere Stellung. Eine platzte vor meinem Gesicht, wobei Leutnant Scheurlen neben mir aufschrie, und ich sah noch, wie ihm vom linken Ohr die eine Hälfte herunterhing. Auch sonst soll er noch verwundet worden sein. Mir selbst passierte wunderbarerweise nichts. Leutnant Spatz erhielt ebenfalls einen Splitter, anscheinend in den Bauch, und sonst noch kleinere Verletzungen. In diesem Augenblick soll nun der Befehl ergangen sein, zum Inf.-Regt. 121 durchzubrechen. Plötzlich rannte alles durch den Laufgraben, wobei wir am Maschinengewehr 2 vorbeikamen, an dem 2 Tote und der Maschinengewehrschlitten lagen. Von dem Maschinengewehr selbst und der übrigen Bedienung war nichts zu finden.
Plötzlich erhielten unsere vordersten Leute aus dem vom Feinde bereits besetzten Laufgraben Handgranatenfeuer. Hierbei muß bemerkt werden, daß Unteroffizier Schaaf das Maschinengewehr 3, welches nach seinen 6000 Schuß auch nicht mehr richtig arbeitete, durch eine Handgranate zerstört hatte. Alles zog sich nun wieder halbwegs gegen die alte Stellung zurück, wobei Vizefeldwebel Frank (5.) ausrief: „Auf, mir nach, wir versuchen Durchbruch!“
Wir sprangen daher aus dem Graben heraus über Reste von Drahtverhauen, Granat-löcher, Baumstämme, kurz ein wirres Durcheinander. Kaum waren wir ca. 30 Meter gesprungen, als wir von allen Seiten wohlgezieltes Infanteriefeuer erhielten, wodurch noch mancher Kamerad sein Leben einbüßte. Weiter vorzudringen mit den wenigen Leuten war zwecklos; wir suchten daher in Granatlöchern Schutz. Diese waren zum größten Teil mit Wasser gefüllt. Ich lag mit Vizefeldwebel Frank, Gefreiter Klink (5.) und noch einem Mann in einem Trichter. Wir berieten, was wir tun sollten. Hier und dort ertönten Schmerzens- und Todesschreie der Unserigen; unsere Gewehre ohne Ausnahme schossen nicht mehr, da sie voll Schlamm waren. Wehrlos, blieb uns in dieser Lage nichts anderes als Übergabe. Klink, der früher in England war, rief auf englisch hinüber, daß wir uns ergeben würden. Der Infanterist, welcher bei uns im Trichter lag, wollte hierauf aufstehen, fiel aber sofort durch Kopfschuß. Uns gegenüber kommandierte ein kanadischer Leutnant, der nur mit vieler Mühe seine Leute davon abhalten konnte, uns wie die Hasen niederzuschießen. Nach Einstellen des Feuers nahm uns der Feind gefangen, ebenso die in den Unterständen oder sonst zerstreut herumlie-genden Verwundeten.
Die Kanadier setzten uns ihre Bajonette auf die Brust, boten uns dabei Zigaretten an und verlangten ein Andenken – souvenir. Dem einen rissen sie die Achselklappen, dem anderen Knöpfe ab. Anderen rissen sie die Mütze herunter und wieder anderen langten sie die Brusttasche heraus. Der Offizier verscheuchte sie jedoch bald und ließ uns nach rückwärts abtransportieren.
Wir kamen an manchen Toten der Kanadier vorbei. Auch Verwundete schleppten sich nach rückwärts. An einer zerschossenen Farm am Zillebeckersee machte man halt und verband die ärgsten Wunden. Einer unserer Infanteristen hatte 7 Bajonettstiche im linken Arm und die rechte Handfläche war zerschnitten, außerdem Schuß in der Schulter. Ein englischer Stab kam aus der Farm heraus, betrachtete uns und reichte dabei auch einige Feldflaschen Tee herum, was von uns sehr angenehm empfunden wurde. Hier stieß dann noch ein Trupp 125er und 120er zu uns, worauf wir nach Ypern hineinmarschierten. Mehrmals wurden wir von den schweren Granaten unserer Artille-rie, die im Gelände herumfunkte, bedenklich bedroht. In Ypern selbst wurden wir wie Urwaldtiere oder Halbgötter bestaunt und mit Zigaretten traktiert, hernach visitiert und mehrerer Sachen beraubt. Nach einigen Stunden ging’s in Autos nach Reninghelst (Divisionsquartier).“


aus: „Das Grenadier-Regiment „Königin Olga“ (1. Württ.) Nr. 119 im Weltkrieg 1914-1918“, Stuttgart 1927

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