Freitag, 26. Dezember 2014

26. Dezember 1914


„Der Morgen des 26. dämmert herauf. Leichter Nebel liegt auf den Feldern, doch dicht genug, um die Franzosen bis ans Gaishag herankommen zu lassen, ehe sie bemerkt werden können. Auch den Bahndamm haben sie zwischen Bahnhof Aspach und Bahnwarthaus Michelbach überschritten und 500 Meter vor unserer Stellung sich einzugraben begonnen. Als der weichende Nebel ihre Umrisse zeigt, setzen sie zum Sturm an. Da schlägt ihnen ein mörderisches Feuer aus den Stellungen zu beiden Seiten der Straße am Ausgang von Niederaspach entgegen, wo die 14. Kompagnie durch 2 Züge der 9. verstärkt worden war. Die Franzosen erleiden starke Verluste. 40–50 Tote mit aufgepflanzten Bajonetten liegen noch lange vor unsern Stellungen. Was dem Feuer nicht zum Opfer fällt, kriecht zum Bahndamm zurück.

Als der Nebel gegen 9 Uhr sich verzogen hat, setzt die feindliche Artillerie ein. Vor allem gilt ihr Feuer den Stellungen um die Kirche und dieser selbst, die am Ortsrand gegen den Michelbacher Wald zu liegt. Anschaulich schildert Oberleutnant Feucht (9. L. 119) die Geschehnisse in seinem Tagebuch. Der Bericht, der unter dem Eindruck der Erlebnisse selbst niedergeschrieben ist, gibt ein klares Bild der Vorgänge und der seelischen Wirkungen dieser Kämpfe, die zum Schwersten gehörten, was wir damals erlebt hatten. „Um 12.30. kam Meldung von den Gräben um die Kirche und die Bitte um Unterstützung gegen die vorgehenden Franzosen. Major Hofacker schickt mich hinaus, um ein klares Bild von der Lage zu gewinnen und die Besetzung dort zu regeln. Ich eile mit einer Gruppe des 2. Zuges und dem Gefreiten Beck zur Kirche und an den linken Flügel der dortigen Stellung. Hier ist Unteroffizier Horn von der 14. in übler Lage. Von seinen Leuten sind noch 2 bei ihm, 2 liegen tot da, die andern sind verwundet. Drüben hinter einer Bodenwelle, etwa 400 Meter vor uns, liegt der Feind. Einzelne Schüsse kamen herüber und werden erwidert. Ich lasse meine Gruppe hier und eile mit dem Gefreiten Beck weiter durch den äußerst engen Graben. Der 1. Zug der 14. ist hier und ein Maschinengewehr. An der Ecke der Stellung, bei den Hecken, treffe ich Feldwebelleutnant Alber von der 9. Kompagnie und Süßkind mit Leuten der 15., die hier eingeschoben waren. Die Batterie, die uns beschießt, steht nach Ansicht der Leute im Kreuzwald nahe beim Bahnhaus Michelbach. Da sie gerade schweigt, kann ich’s nicht beobachten. Im nördlichen Grabenteil vor dem Pfarrhaus finde ich meinen alten Zug der 14., mit dem 1. Zug der 9. vermischt, vor. Die Leute haben eine riesige Freude, mich hier zu sehen. Von dieser Stelle aus kann ich die toten Franzosen deutlich sehen. Da die Besetzung hier zu dicht ist, schicke ich den ersten Zug der 9. unter Leutnant Koch auf den schwach besetzten linken Flügel. Dann zurück aufs Bataillon zur Meldung! Die Beschießung geht inzwischen weiter, sie wird immer heftiger. Die Läden müssen geschlossen werden, damit die Scheiben nicht springen. Wieder kommen Hilferufe aus dem Graben bei der Kirche, die andern Teile der Stellung haben nicht zu leiden. Also muß ich wieder hinaus. Ich nehme den Rest des 2. Zuges der 9. Kompagnie mit vor. Die Hälfte der Mannschaft schicke ich durch die Höfe und Gärten durch die Obergasse, die andern nehme ich mit mir die Hauptstraße entlang. Im Schutz der Kirchenmauer wollen wir uns treffen. Von dort sollen die Leute auf den Graben verteilt werden. Verwundete kommen uns vom linken Flügel entgegen, den ich vor einer Stunde frisch aufgefüllt habe. Wir kommen ohne Verluste an der Kirche zusammen. Da es augenblicklich ruhig ist, will ich rasch mit einer Gruppe in den Friedhoflaufgraben. Ich gehe voraus, der nördlichen Kirchenwand entlang, die mich gegen die Batterie vom Kreuzwald her deckt. Die Leute folgen in Reihe hinter mir.

Plötzlich – ist’s ein Schlag oder ein Druck? – ich finde mich wieder, mit dem Rücken an die Kirchenwand gelehnt, den Nachhall einer mächtigen Erschütterung im Ohr. Um mich Rauch, Qualm, Staub. Der Platz ist leer. Oder seh‘ ich rasch um die Ecke noch Gestalten verschwinden? Jetzt sehe ich neben mir am Boden zwei Leute, gekrümmt, regungslos, leise wimmernd. Daneben umgestürzte, zersplitterte Grabsteine. Ein paar Schritt davon liegt ein Mann, ebenso regungslos. Ich sehe das alles ohne klares Empfinden. Teilnahmslos sehe ich die Mauer vor mir zusammenbrechen. Schlag auf Schlag. Ins Pfarrhaus reißt’s ein gewaltiges Loch, Kreuze stürzen dicht vor mir, vom Kirchdach fallen Steine und Ziegel. Wieder ein Schlag in nächster Nähe; Mörtel und Mauerschutt überschüttet mich. Irgend woher, hoch durch die Luft, wirbelt etwas zu mir her und fällt neben mir zu Boden. Es ist ein abgerundetes Stück Lederpappe mit dem Namen des Optikers Früngel-Stuttgart in Goldbuchstaben. Es muß von der Innenseite eines Fernglastaschendeckels stammen, das irgend ein Kamerad im Graben drüben 40, 50 Schritt von mir trug. Das rüttelt mich auf. Ich sehe, daß ich dicht neben der Kirchentüre stehe, aus der jetzt ein Unteroffizier mir winkt. Ich nicke ihm zu. Das Wimmern ist verstummt, die beiden haben ausgelitten. Des einen Gewehr ist in der Mitte zerbrochen, dem andern fehlt ein Stiefel, ein Fuß. Ich eile zurück hinter den Kirchturm. Noch einer liegt dort an einem Grabstein, sein eines Bein ist am Knie ein blutiger Stumpf. Ein paar Verwundete helfen sich fort, so gut es geht, die Krankenträger eilen zur Hilfeleistung herbei.

Hinter der Kirche finde ich den Rest der Leute, der Schrecken ist ihnen deutlich anzusehen. Auf der Südseite der Kirche ist’s im Augenblick ruhig. Also die Leute durch den Friedhof zum Laufgraben geführt! Auf der Nordseite der Kirche schlägt wieder Lage um Lage ein. – Unsere Leute liegen im langsamen Feuergefecht gegen die Linien drüben im Feld. Ich komme gerade recht, um zu sehen, wie drüben vom Wald Verstärkungen kommen und die feindliche Feuerlinie verlängern. Unsere Leute schießen schneller, das Maschinengewehr, das in unserer Nähe im Graben eingebaut ist, tritt in Tätigkeit. Drüben flutet’s zurück in den Wald, manche bleiben liegen. Ich gehe weiter nach links, um dort nachzusehen. Eine Granate wirft ein Stück des Grabens ein und deckt einen Unteroffizier zu, neben dem ich eben noch stand. Drüben versuchen sie es jetzt auf andere Weise. Einzeln, ein Mann nur jeweils, kommen sie aus dem Wald und rennen in die Linie vor. Bald vergeht uns das Schießen auf den Waldrand, aus dem sie drüben vorbrechen. Granate um Granate sucht unsern Graben zu fassen. Wieder und wieder das scharfe peitschende Zischen, dumpfer Schlag im Boden oder heller betäubender Knall und hochaufspritzendes Erdreich, schwarzgelber Qualm und stechender Rauch. Lage auf Lage saust zu uns herein. In der kurzen Pause nach den 4 Schüssen muß es reichen bald zu einem Blick hinüber zu der feindlichen Infanterie, bald zu einem Wort an die eigenen Leute. Wir ducken uns, hilflos, wehrlos dem Verderben preisgegeben. Wenn doch unsere Artillerie endlich eingreifen würde! Tote und Verwundete gibt’s. Ein Unteroffizier sinkt neben mir lautlos zusammen, Granatsplitter im Kopf. Dort wird einem der ganze Kopf weggerissen, einem andern reißt’s den Unterkiefer weg. Alber arbeitet sich zu mir durch, er ist erschüttert, seine Leute sind ganz verzweifelt, denn der Graben, der bei ihnen im rechten Winkel abbiegt, wird der ganzen Länge nach vom Granatfeuer dauernd aus der Flanke bestrichen. Die Leute kann man aus ihrer Hölle nicht zurückziehen; der Graben ist ganz schmal und noch nicht ausgebaut, nirgends in der Nähe kann man die Leute unterbringen. Und drüben auf 400 Meter liegt der Feind und lauert, ob wir sturmreif sind. Lage um Lage saust auf uns nieder!

Langsam, unendlich langsam verrinnt die Zeit. Hin und wieder können wir aufatmen und hinübersehen, wie die Kirche hinter uns ganz in Rauch und Staub verschwindet, ein Stück um das andere vom Dach und Turm herunterbröckelt. Ein schwacher Trost, daß offenbar nur Feldbatterien schießen. Dann werden wir selbst wieder zugedeckt. Hier tönt lautes Jammern eines Getroffenen, dort dringt in meiner Nähe hinter einer Erdmauer ununterbrochen lautes Beten zu mir her. Mehr als einmal prasseln abgeschlagene Äste, fallen Eisenteile und Erde auf mich nieder. Warten müssen, den Kerl da drüben nicht am Kragen packen können, warten müssen, die Zähne zusammenbeißen, bis der Tod kommt oder die gräßliche Verstümmelung! Stunde um Stunde vergeht. Endlich, endlich läßt das Feuer nach, werden die Lagen seltener. Es ist ½5 Uhr geworden, der Tag geht zu Ende.

Vorsichtig richten wir uns auf. allmählich kehrt der frohe Mut wieder. Es bleibt ruhig. Kommt jetzt der letzte Anlauf der feindlichen Infanterie? Doch vom Feind zeigt sich nichts neues, er scheint fürs erste genug zu haben. Als es dämmert, kommt der 3. Zug der 9. Kompagnie zur Entlastung. Wie freut man sich, sich wiederzusehen! Nun kann ich’s wagen, aus dem Graben zu steigen und mich umzusehen. Der Laufgraben ist an mehreren Stellen völlig verschüttet. Im Friedhof liegt ein wüster Haufen von Grabsteinen, einzelne Gräber sind aufgewühlt, die gegen die Franzosen deckende Mauer ist völlig verschwunden, das große Eisentor ist ein wirrer Knäuel. Am linken Flügel sind 2 Unterschlüpfe völlig zusammengeschossen, der Graben völlig verschüttet. Da liegt Vizefeldwebel Süßkind tot und starr. Seine Beförderung zum Offizier hatte ihn nicht mehr lebend erreicht. Krankenträger kommen und suchen die Gräben ab. Stabsarzt Dr. Bingel sucht zu helfen wo er kann, kriecht in den engen Gräben umher, um die erste Hilfe selbst zu bringen. Sie finden reiche Arbeit. Wir stehen im Graben, aufgerüttelt bis ins Innerste bei so viel Elend, das wir um uns sehen und jeder sucht vor dem andern die hellen Tränen zu verbergen, als die Toten und schwerverwundeten Kameraden fortgetragen werden. Insgesamt fielen hier auf dem engen Platz um die Kirche 12 tot, 40 verwundet aus.

Nun waren die Anordnungen für die Nacht zu treffen. Der Graben mußte instandgesetzt und scharfe Wacht gehalten werden. Geschützte Räume gibt’s nicht mehr, so muß alles im Graben liegen bleiben.

Auf einmal ist beim Gegner drüben Bewegung zu beobachten. Der Vollmond steht am Himmel. Mit dem Glas kann man eine Menschenreihe feststellen, die sich auseinander zieht. Der Aufstellung nach scheinen sie schanzen zu wollen. Täuschen wir uns nicht? Man glaubt Stimmen zu hören, ärgerliche, widersprechende. So, als ob die Leute mit der Anordnung nicht zufrieden wären. Und nach ein paar Minuten verschwinden sie alle im Walde wieder.

So vergehen die Stunden der Nacht. Da kommt endlich die langersehnte Ablösung. 3 Schwadronen des Saarburger Ulanen-Reg. 15 übernehmen die Stellungen. Sie waren bei Ypern gewesen und waren die Sache schon eher gewohnt. Die 9. Kompagnie kam nach Oelenberg, die 10. und 14. nach Schweighausen in Reserve.““
 
 

aus: „Das Württembergische Landwehr-Inf.-Regiment Nr. 119 im Weltkrieg 1914–1918“, Stuttgart 1923

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