Sonntag, 10. Mai 2015

10. Mai 1915


„Die I. Abteilung hatte an diesem ersten Tage besonders schmerzliche Verluste zu beklagen. Zwei Offiziere, darunter der Führer der 2. Batterie, und viele Unteroffiziere und Mannschaften waren gefallen. Über den Heldentod des Führers der 2. Batterie, Hauptmann d. R. Leube, des beliebten Stadtvorstands von Geislingen a. St., der sich als Kamerad und Vorgesetzter seltener Beliebtheit erfreute, erzählte mir der ihn bergende Kriegsfreiwillige Musper I, folgendes:
„Als wir gehört hatten, daß der erste Versuch, unseren schwerverwundeten Batterieführer, Hauptmann Leube, von der Beobachtung zur Batterie zurückzubringen, mißlungen war, meldeten sich der damalige Sanitätsunteroffizier Mayer, mein Bruder, Gefr. Musper II und ich, ich vom Geschütz weg, mein Bruder eben von einer Leitungspatrouille ermüdet zurückkommend. Da die Tragbahre der Batterie beim ersten Versuch verloren gegangen war und in der Dunkelheit nicht mehr gefunden werden konnte, mußten wir rasch eine behelfsmäßige herstellen; eine Zeltbahn und zwei Stangen mußten genügen. Damit machten wir uns auf den Weg; für uns so gar nicht kampferprobte Leute ein grauenhafter Weg! Denn als wir in dem Gehölz in der Dunkelheit nach der Beobachtungsstelle suchten, berührten die Füße auf  Schritt und Tritt die verstümmelten Glieder der Leichen der am Tage gefallenen Infanteristen, die sich hier, Loch an loch eingegraben, ihr eigenes Grab gegraben hatten. Das Heulen der Granaten und das Pfeifen der Infanteriegeschosse machte uns wenig aus, war uns neu, ja dieses Neue war für uns mehr interessant; aber dieser Anblick der Toten war uns furchtbar. Das war der Krieg! So ahnten wir, wie es wohl in unserer Beobachtung aussehen werde. Wir fanden sie. Von unseren schweren Verlusten dort wußten wir. Der schwer verwundete Richtkreisunteroffizier Zeifang, dessen einer Fuß blutüberströmt nur noch an einem Lappen hing, während er noch stundenlang bei vollem Bewußtsein war, der Tapfere hatte gesagt, wie wir ankamen und die Frage war, wer nun zuerst zurückgebracht werden sollte: „Nehmet Herrn Hauptmann zurück, mit mir ist es doch bald zu Ende!“ Er starb bald darnach in dieser Beobachtungsstelle, die nur aus einem flachen Loch von nicht viel über einen halben Meter Tiefe bestanden hatte und kaum Schutz gegen Infanteriefeuer bieten konnte. – So nahmen wir die teure Last. Es war nicht leicht, unserem Schwerverwundeten – ein Granatsplitter hatte ihm ein Loch in den Rücken, so groß wie eine Faust, geschlagen – nicht noch weher zu tun bei seinem brennenden Schmerz. Wir drei lösten uns gegenseitig ab, immer einer voraus, den besten Weg aussuchend und bahnend. Schlecht genug ging es durch das niedere Gehölz und die Büsche, über die Infanterielöcher und die Toten hinweg und von den Telephondrähten behindert. Wir waren kaum fort von der Beobachtungsstelle, so wurde das Infanteriefeuer stärker und stärker, unsere Infanterie ging vor, feindliche Maschinengewehre ließen ihre Geschosse pfeifen, rings um uns klatschte es in die Bäume, in die Erde. Nie seither bin ich je wieder durch solch Infanteriefeuer gegangen. Oft mußten wir uns niederwerfen, um auf dem ebenen Boden etwas Deckung zu finden und um den Schweiß abzuwischen, denn der Tag war heiß gewesen, und besonders mein Bruder, der am nächsten Tag auch eine schwere Verwundung erhalten sollte, war nicht gewohnt, solche Last zu tragen. Dabei sprachen wir dann mit unserem Batterieführer, wie es ihm gehe, ob wir’s ihm erleichtern könnten, denn daß wir nur diese elende Zeltbahn hatten, ihn zu tragen, mußte ihn wahnsinnig schmerzen. Er hatte aber immer nur den Wunsch: „Ihr bringt mich doch in meine Batterie?“ Daß Hauptmann Leube immer noch bei vollem Bewußtsein war, und daß wir ihn zurückbringen durften, das spornte uns an, uns zu beeilen, so gut es ging. Ich glaube, 20 Minuten brauchten wir dazu, dann konnten wir ihn im Unterstand unseres Geschützes ein besseres Lager bereiten. Sogleich war der Arzt zur Stelle; aber das sahen auch wir, seine Kanoniere, daß unser Hauptmann nicht lange mehr aushalten könne. So verschied unser geliebter Batterieführer dann eine Stunde darauf, während draußen die Kanonen wieder donnerten!.““




aus: „Das Württembergische Feld-Artillerie.-Regiment Nr. 116 im Weltkrieg“ Stuttgart, 1921

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